Die Kulturfrage des Unternehmertums – Dr. Florian Heinemann über die deutsche Start-up-Szene

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Herr Heinemann, Sie haben in Ihrer Karriere sowohl in dynamischen Start-ups als auch in etablierten Unternehmen Führungsverantwortung übernommen. Wie hat sich Ihrer Meinung nach das Führungsverständnis in der Start-up-Szene in den letzten Jahren entwickelt? 

Ich glaube, im Start-up-Bereich hat sich – trotz des technologischen Fortschritts – prinzipiell nicht allzu viel am Kern verändert. Als ich in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren in diesem Umfeld anfing, dominierte ein relativ partizipatives Führungsmodell, bei dem es in erster Linie darum ging, dass das beste Argument zählt. Das bedeutet, dass die Gründer und Führungsteams in der Regel auf Augenhöhe agierten – unabhängig von formalen Hierarchien oder langjährigen Karrierepfaden. Damals waren viele Start-ups noch von privaten Hochschulen und betriebswirtschaftlich geprägten Gründern dominiert. Das Gründungsteam bestand häufig aus drei bis fünf Personen, die sich als gleichberechtigte Partner verstanden und gemeinsam Entscheidungen trafen. 

Mit der Zeit hat sich zwar in großen Unternehmen und Konzernen ein deutlich hierarchischeres Führungsmodell durchgesetzt – oft mit festen Strukturen, Aufsichtsräten und internen Coaches –, aber im Start-up-Segment blieb das Prinzip weitgehend erhalten. Natürlich beobachtet man heute vermehrt einen Trend, bei dem auch Diversität und Geschlechtergerechtigkeit stärker in den Vordergrund rücken. Die Teams werden breiter aufgestellt und oft wird explizit darauf geachtet, dass unterschiedliche Hintergründe und Perspektiven vertreten sind. Dennoch ist es mir wichtig zu betonen, dass es beim erfolgreichen Führen in jungen Unternehmen in erster Linie darum geht, authentisch zu bleiben – dass das Führungsteam ein Modell entwickelt, das zu seiner eigenen Persönlichkeit passt. Es gibt kein universelles Rezept, denn das funktioniert nur dann, wenn es wirklich von innen heraus getragen wird. 

Ein weiterer Aspekt ist, dass in der Start-up-Szene das Alter und die unmittelbare Erfahrung eine weniger große Rolle spielen als in klassischen Großunternehmen. Beispielsweise war ich selbst erst 23, als ich mein erstes Unternehmen mitgründete, und oft begegnet man Mitarbeitern, die gerade einmal Mitte zwanzig sind – man arbeitet also eher auf Augenhöhe, auch wenn es gelegentlich jüngere oder ältere Teammitglieder gibt. Dabei hat sich auch gezeigt, dass gerade diese flache Hierarchie es ermöglicht, flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren. Gleichzeitig beobachte ich, dass in Großkonzernen – wo oft ein stärker formalisierter Führungsstil vorherrscht – in der Umsetzung von Veränderungen und innovativen Ideen manchmal längere Entscheidungswege nötig sind. 

Insgesamt ist mein Eindruck, dass das authentische, inhaltliche Führen im Start-up-Bereich auch heute noch den Ausschlag gibt. Selbst wenn inzwischen externe Coaches und formale Strukturen zur Professionalisierung beitragen, bleibt das zentrale Element: Die Führung muss zur Persönlichkeit und zum Gründungsteam passen. Nur so gelingt es, eine Unternehmenskultur zu etablieren, in der wirklich die besten Ideen gewinnen – unabhängig von Alter oder Herkunft. 

Viele unserer Leser interessieren sich dafür, welchen Einfluss die universitäre Ausbildung auf Führungskompetenzen hat. Inwiefern haben Sie persönlich aus Ihren Studienjahren etwas für Ihr Führungsverständnis mitgenommen? 

Das ist eine interessante Frage. An der Universität lernt man in erster Linie theoretische Grundlagen – etwa in Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft oder Recht. Was Leadership betrifft, so gibt es zwar einige organisatorische Modelle und theoretische Ansätze, jedoch fehlt oft der direkte Praxisbezug. In meinem Fall hat sich mein Führungsverständnis vielmehr in der realen Arbeitswelt entwickelt – durch die direkte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die in der Start-up-Szene auftreten. 

Ich erinnere mich, dass wir an der Uni durchaus engagierte Professoren hatten, die sich mit Organisationstheorien befassten. Dennoch kam der entscheidende Lernprozess oft erst, als man selbst in einem Umfeld tätig wurde, in dem jede Entscheidung täglich an den Märkten gemessen wird. Die Theorie kann zwar einen Rahmen liefern, aber die authentische Führung entsteht aus den Erfahrungen, die man im direkten Umgang mit Mitarbeitern und Investoren sammelt. 

Aus diesem Grund bin ich der Überzeugung, dass Führungskompetenz nicht ausschließlich in Hörsälen gelehrt werden kann. Es bedarf der praktischen Erfahrung, um zu verstehen, was in der Realität funktioniert – sei es in der Führung eines jungen Start-ups oder in der Steuerung eines wachsenden Unternehmens. Praktische Projekte, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Mentoring-Programme könnten hier sicherlich noch stärker in den Vordergrund rücken, um den Studierenden einen realitätsnahen Einblick in effektives Leadership zu geben. 

Deutschland wird oft als Standort für Innovation diskutiert. Welche Zentren oder Regionen würden Sie als besonders attraktiv für Start-ups und technologische Innovationen bezeichnen? 

Das ist eine komplexe Frage, denn die Innovationslandschaft in Deutschland ist vielschichtig. Natürlich hört man immer wieder den Vergleich mit dem Silicon Valley, doch der amerikanische Ansatz lässt sich nicht einfach eins zu eins übertragen. In Deutschland haben wir durchaus attraktive Standorte – München und Berlin beispielsweise stechen hier besonders hervor. 

München punktet vor allem durch seine enge Verzahnung von Technologie, Forschung und Kapital. Dort gibt es etablierte Netzwerke, die sowohl technische als auch kaufmännische Kompetenzen vereinen. Auch in Berlin findet man eine internationale Atmosphäre, die junge Gründer anzieht, weil sich hier vielfältige kulturelle und wirtschaftliche Impulse treffen. Allerdings ist Berlin – trotz seiner internationalen Strahlkraft – auch geprägt von einer gewissen Unordnung in der regionalen Vernetzung, was manchmal den strategischen Austausch erschwert. 

Wichtig ist, dass es in beiden Städten nicht um eine staatliche Vorschrift geht, sondern um das Entstehen von «Defining Companies» und Persönlichkeiten, die den Unterschied machen. Es sind immer wieder einige wenige, herausragende Akteure, die den Impuls geben und das Ökosystem nachhaltig prägen. Diese Impulse sind häufig nicht staatlich steuerbar, sondern ergeben sich aus der Kombination aus Talent, Netzwerken und einer gewissen Risikobereitschaft. 

Letztlich ist der Schlüssel, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen – etwa durch Förderprogramme, Forschungskooperationen und den Abbau bürokratischer Hürden – damit sich diese Impulse auch in nachhaltigen Unternehmensgründungen manifestieren können. Deutschland hat großes Potenzial, gerade in Bereichen wie KI, Quantencomputing und Deep Tech, aber wir müssen konsequent daran arbeiten, diese Ressourcen besser zu bündeln und zu fördern. 

Viele junge Menschen träumen von einer Karriere im Venture Capital. Welche Voraussetzungen sollten Studierende oder Berufseinsteiger mitbringen, um in diesem Bereich erfolgreich zu sein? 

Der VC-Bereich ist von Natur aus relativ klein und sehr kompetitiv. Die Anzahl offener Stellen ist begrenzt – in Europa sprechen wir hier von vielleicht 50 bis 60 relevanten Positionen pro Jahr. Daher ist es entscheidend, dass Bewerberinnen und Bewerber nicht nur über exzellente akademische Leistungen verfügen, sondern auch praktische Erfahrungen sammeln. 

Ein häufiger Weg in diesen Bereich führt über Praktika. Viele der Junior-Positionen im VC-Bereich werden an Personen vergeben, die bereits drei bis sechs Monate praktische Erfahrung in einem entsprechenden Umfeld vorweisen können. Dabei sind Erfahrungen in der Beratung, im Investmentbanking oder – was zunehmend wichtiger wird – in operativen Rollen in Start-ups von großem Vorteil. Denn gerade im VC-Bereich wird immer stärker Wert darauf gelegt, Gründerinnen und Gründer nicht nur finanziell zu unterstützen, sondern auch strategisch und operativ beratend zur Seite zu stehen. 

Operator-Erfahrung, also das Wissen, wie man in einem jungen Unternehmen tatsächlich Produkte entwickelt und Märkte erobert, ist heutzutage ein entscheidender Pluspunkt. Es reicht nicht, theoretisches Wissen zu besitzen; man muss auch verstehen, wie man als Team agiert und wie man den Aufbau eines Unternehmens praktisch unterstützt. Zudem spielt die interdisziplinäre Ausbildung eine wichtige Rolle. Ein gutes Fundament in Betriebswirtschaft, kombiniert mit technischen Kenntnissen – sei es in Data Science, IT oder Produktentwicklung – kann hier den entscheidenden Unterschied machen. 

Abschließend möchte ich betonen, dass der Einstieg in den VC-Bereich keine Übergangskarriere ist, sondern langfristig geplant werden muss. Die Zeiträume, in denen sich Investments auszahlen, sind lang – oft 15 bis 20 Jahre. Wer sich für diesen Bereich entscheidet, sollte also wirklich eine langfristige Perspektive haben und bereit sein, kontinuierlich zu lernen und sich weiterzuentwickeln. 

Gibt es in Deutschland einzelne Akteure oder Persönlichkeiten, die Ihrer Meinung nach die Start-up- und VC-Landschaft nachhaltig prägen? 

Definitiv. In Deutschland gibt es einige Vorreiter, die immer wieder als Impulsgeber auftreten. Viele der heute bekannten Namen – wie die Gründer von Zalando, HelloFresh oder DeepL – haben in ihren frühen Jahren nicht nur erfolgreich Unternehmen gegründet, sondern agieren auch als Angels und Mentoren für neue Gründer. Diese Persönlichkeiten prägen den Markt, indem sie nicht nur Kapital bereitstellen, sondern auch als Vorbilder fungieren. 

Ich beobachte, dass diese erfolgreichen Gründer, die auch mehrfach unternehmerisch tätig waren, den Unterschied machen. Ihr Engagement und ihre Bereitschaft, ihr Wissen weiterzugeben, schaffen ein starkes Netzwerk, das den gesamten Gründungsmarkt nachhaltig beeinflusst. Durch ihre Investitionen und Mentoring-Aktivitäten tragen sie dazu bei, dass innovative Ideen auch in Zukunft erfolgreich umgesetzt werden. 

Sie sind Gesellschafter bei StartUpTeens und Gründungsinvestor der CODE University of Applied Sciences. Junge Menschen an Innovationen und unternehmerisches Denken heranzuführen, scheint Ihnen ein wichtiges Anliegen zu sein. Geschieht in Deutschland genug in diesem Bereich und ist Deutschland ein attraktiver Standort für Start-ups und Innovatoren?  

Ich finde, dass die Start-up-Szene in Deutschland grundsätzlich viel Potenzial hat, aber es mangelt immer noch an einer Kultur, die Unternehmertum als attraktive und realistische Option etabliert. Oft wird behauptet, dass Deutsche per se weniger unternehmerisch seien – das halte ich für totalen Quatsch. Vielmehr liegt es an der Einstellung und den vorhandenen Strukturen. Junge Menschen müssen immer wieder daran erinnert werden, dass Gründen nicht nur etwas für absolute Überflieger ist. 

Die Erfahrung zeigt, dass erfolgreiche Unternehmer ganz normale Menschen sind – intelligent, getrieben und vor allem bereit, hart zu arbeiten. Es muss mehr darüber kommuniziert werden, dass man als Gründer nicht automatisch ein Übermensch sein muss, sondern dass es ein authentischer Weg ist, der – richtig angepackt – für viele eine sehr attraktive Karriereoption darstellt. Initiativen wie Startup-Teams an Universitäten, Gründerzentren und Mentoring-Programme sind hier essenziell. Sie können jungen Talenten den notwendigen Praxisbezug vermitteln und ihnen zeigen, dass auch sie das Zeug dazu haben, ein Unternehmen aufzubauen. 

Leider ist der Zugang zu solchen Programmen oft noch zu fragmentiert. Es gibt zwar zahlreiche Angebote, doch diese sind nicht immer gut vernetzt oder systematisch ausgerichtet. In meinem eigenen Werdegang hat es mir sehr geholfen, Teil eines Gründungsteams zu sein und unmittelbar von erfahrenen Unternehmern zu lernen. Ich denke, dass hier vor allem mehr Kooperation zwischen Universitäten, privaten Initiativen und auch der Wirtschaft notwendig ist, um den Gründungsprozess attraktiver zu machen. 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Finanzierung. Gerade im Frühstadium brauchen Gründer nicht nur Know-how, sondern auch Kapital. Wenn erfolgreiche Unternehmer als Angels auftreten und ihre Erfahrungen weitergeben, kann das einen enormen Motivationsschub auslösen. Denn es zeigt, dass der Weg zum Erfolg realistisch und erreichbar ist. 

Welche Rolle spielen institutionelle Initiativen und universitäre Programme aktuell in der Förderung des Unternehmertums? Sehen Sie hier noch Verbesserungspotenzial? 

Institutionelle Initiativen und universitäre Programme haben in den letzten Jahren durchaus an Bedeutung gewonnen. Viele Hochschulen haben mittlerweile eigene Gründerzentren, Inkubatoren und Accelerator-Programme etabliert. Diese Einrichtungen bieten nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch Coaching, Netzwerkzugänge und Workshops, die jungen Unternehmern den Einstieg erleichtern sollen. 

Allerdings sehe ich auch hier noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Besonders in Deutschland mangelt es oft an einer systematischen Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen. Während in manchen Regionen – wie etwa in München – relativ gut vernetzte Strukturen existieren, gibt es in anderen Ballungsräumen noch erhebliche Defizite. Besonders in Berlin etwa fehlt es gelegentlich an einer kohärenten Strategie, die alle relevanten Akteure miteinander vernetzt. Das führt dazu, dass viele vielversprechende Ideen und Projekte zwar existieren, aber nicht ausreichend Synergien entstehen. 

Ein weiteres Problem ist, dass die universitäre Lehre oft zu theoretisch bleibt. Praktische Erfahrungen, die für das Unternehmertum unabdingbar sind, werden nicht konsequent vermittelt. Hier könnten mehr interdisziplinäre Projekte, Praxissemester und Kooperationen mit der Wirtschaft helfen. Es wäre wünschenswert, wenn Universitäten nicht nur als Bildungsstätten, sondern auch als Innovationsmotoren fungieren würden. 

Nicht zuletzt spielt auch die Politik eine wichtige Rolle. Staatliche Förderprogramme und gezielte Initiativen zur Unterstützung von Start-ups können den Weg in die Selbstständigkeit erheblich erleichtern. Es geht darum, ein Ökosystem zu schaffen, in dem Talente nicht nur erkannt, sondern auch systematisch gefördert werden – von der ersten Idee bis hin zum global agierenden Unternehmen. 

Dr. Florian Heinemann ist Mitgründer und General Partner von Project A Ventures, wo er die Bereiche Marketing, CRM und Business Intelligence verantwortet. Zuvor war er Geschäftsführer bei Rocket Internet und baute Unternehmen wie Zalando, Global Fashion Group und Spark Networks mit auf. Frühere Stationen umfassen die Mitgründung von JustBooks/AbeBooks (Exit an Amazon) und antibodies-online.com (Exit an Broadoak). Er ist als Business Angel in über 80 Startups aktiv, darunter Trivago, Audibene und ClassPass und promovierte an der RWTH Aachen im Bereich Innovationsmanagement und hat einen BWL-Abschluss der WHU Koblenz.

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