Bei der EZB-Konferenz am 26.05.2014 kündigte Mario Draghi die neue Politik der europäischen Zentralbank an. Unter anderem mit negativen Einlagezinsen. Herr Müller, welcher Gedanke kam Ihnen nach den ersten Minuten in den Sinn?

Mein erster Gedanke war: was soll das bringen? Wir haben bereits jetzt historisch niedrige Leitzinsen. Es herrscht eine völlige Verzerrung der Zinsniveaus und der volkswirtschaftlichen Naturgesetze vor. Diese niedrigen Zinsen bringen keine Belebung der Wirtschaft in Südeuropa. Der zur Zeit gestörte Transmissionsmechanismus funktioniert in der Theorie so, dass die Zentralbank billiges Geld zur Verfügung stellt, die privaten Banken sich dieses Geld günstig bei der Zentralbank leihen bzw. als Basis für ihre Geldvergabe nehmen und damit Kredite an Endverbraucher aufgeben. Je günstiger sich die privaten Banken diese Geldbasis besorgen können, umso freudiger geben diese Kredite aus und umso niedriger sind die Kredite für die, die sie entgegen nehmen. Allerdings herrscht das Problem vor, dass in Südeuropa niemand ist, der die Kredite entgegen nehmen könnte. An wen sollen die privaten Banken also die Kredite vergeben? Die 25% Arbeitslosen bekommen keine Kredite, weil die Bank bei einer solchen Ungewissheit der Kredittilgung, kein Geld verleiht. Ganz egal wie billig das Geld der Zentralbank ist, private Banken werden bei derartigen Unsicherheiten das Geld nicht verleihen. Dies gilt für Arbeitslose, für Arbeitnehmer deren Jobs wackeln und auch für mittelständische Unternehmen, denen das Wasser bis zum Hals steht bzw. deren Produkte nicht verkauft werden. Folglich ist niemand da, der die Kredite aufnehmen kann. Den Effekt des Transmissionsmechanismus eliminieren wir somit auch nicht mit noch niedrigeren Zinsen. Selbst wenn Banken Strafe zahlen müssten, ist es diesen immer noch lieber die Strafe zu akzeptieren, als Geld an bonitätsschwache Leute zu vergeben.

Nach dieser Argumentation wäre ja die Behauptung, die EZB wolle Inflationstendenzen bekämpfen, quasi invalide?

Richtig, da dieser Mechanismus nicht funktioniert. Er unterstützt natürlich diejenigen, die noch Kredite aufnehmen können bzw. noch bonitätsstark sind, wie beispielsweise Deutschland. Dort führt das tatsächlich zu Kreditexistenzen – wie im Immobilienbereich. In den Ländern, in denen das Geld tatsächlich ankommen sollte, entsteht dieser Effekt jedoch nicht.

Die Aufgabe der EZB ist es, die Banken so aufzustellen, dass diese Kredite auch an schwache Schuldner vergeben werden können. Hierbei fällt immer wieder der Begriff der „Asset Backed Securities“: Banken sollen die Kredite an schwache Unternehmen in Südeuropa vergeben und ohne Rücksicht auf Verluste diese Kredite bündeln und als Kreditpakete bei der EZB abliefern. Am Ende findet eine indirekte Finanzierung der schwachen Unternehmen Südeuropas durch die EZB statt – behaftet mit dem Risiko für europäische Steuerzahler. Die EZB zieht dies momentan offenkundig als letzte Möglichkeit in Betracht. Es könnte durchaus zu einem Boom in Südeuropa führen, aber um den Preis extrem gefährdeter Kredite und einer möglichen Kreditblase mit „Schrottkrediten“.

Amerika hat sich in einer ähnlichen Situation befunden wie Europa heute, wobei es strukturell gesehen und mit Bezug zum System der Zentralbank natürlich anders ist. Doch wieso haben sich dort die Banken besser erholt?

In den USA wurden die Banken entschuldet, indem ihnen die „faulen“ Kredite abgenommen wurden und dem Steuerzahler direkt übertragen wurden. Viele Immobilienbesitzer sind schlichtweg durch das Verlassen ihres Hauses von ihren Schulden befreit worden, sodass die amerikanische Notenbank dies mit ihren Maßnahmen wieder ausgleichen musste. Auf diese Art und Weise wurden die Banken wieder kapitalisiert. Das hat in den USA zwar funktioniert, dennoch muss in Frage gestellt werden, ob dies dass Richtige war.

Sie werden häufig mit Vollgeldsystemen in Verbindung gebracht. Sehen Sie das tatsächlich als eine umsetzbare Option an?

Absolut. Ich halte es sogar für zwingend notwendig, dem Geldprimat der Banken die Möglichkeit zur Geldschöpfung zu entziehen. Ein ganz einfaches Beispiel hierzu: im Augenblick verleiht die EZB das Geld zu null Prozent an die Banken, die dieses Geld für drei bis fünf Prozent an die Staaten weiter verleihen. Warum können diese Staaten das Geld nicht direkt für jene 0,1% bei der EZB aufnehmen? Weil die Bank der Gesellschaft erzählt, dass sich dadurch inflationäre Tendenzen entwickeln, wenn die Zentralbank dem Staat das Geld direkt leiht. Gibt die EZB dieses Geld jedoch an die Bank und die Banken den Staaten, folgt offensichtlich keine Inflation. Diese Begründung ist somit ausgesprochen „bescheuert“ und dient lediglich dazu, den Banken die Taschen mit Geld zu füllen. Dieser Prüfmechanismus ist offenkundig nicht standhaft, da die gesamte Verantwortung und Haftung schon jetzt bei der EZB liegt. Herr Draghi sagt, er kaufe alles auf. Dies kann er zwar auch direkt machen, jedoch kassieren dann die Banken nicht diese drei bis fünf Prozent. Das von den Banken eingegangene Risiko wird ohnehin auf die Staaten und somit den Steuerzahler abgewälzt. Letzten Endes macht dieses System also keinen Sinn. An diesem momentanen Beispiel erkennt man den momentan existierenden Wahnsinn des Geldsystems. Ein besseres Argument für Vollgeldsysteme als die aktuelle Sachlage, kann nicht gefunden werden.

Historisch betrachtet ist jedes Fiat-System bislang zusammengestürzt. Was bleibt dem Kleinanleger innerhalb dieses Rahmens eigentlich übrig? Jeder Wirtschaftsraum von China bis zu den Vereinigten Staaten und Europa scheint im Moment ja von Blasenbildungen betroffen zu sein.

In China gibt es eine extreme Blasenbildung, ohnehin in den Schwellenländern. Das ist normal, in Boomphasen gibt es immer Fehlentwicklungen. Je heftiger ein Boom ist und mit je mehr Geldmitteln er ausgestattet ist, umso extremer werden die Exzesse in der jeweiligen Volkswirtschaft, da diese Geldströme jeden Schwachsinn ermöglichen und die Probleme überdecken. In dem Moment aber, in dem sich dieses Geld wieder zurückzieht – wie es momentan in den Schwellenländern passiert – ist es wie bei einer Überflutung. Am Anfang sieht man diese wunderbare Wasserlandschaft, am Schluss den ganzen hässlichen Schlick, der sich abgesetzt hat. Diesen gilt es dann von den Straßen zu räumen. Im Moment beginnt sich die Überschwemmung langsam zurückziehen, so dass man den Schlick bislang nur erahnen kann. Sobald wir diesen Schlick in seiner ganzen Ausdehnung sehen, kann das ziemlich bösartig enden. In den letzten Jahren der Flut hat sich in China ziemlich viel abgesetzt.

Gibt es im Rahmen dieser Flut dann überhaupt Trends, die sie für nachhaltig halten?

In diesen Phasen wird man kaum etwas finden, womit man vernünftig Geschäfte machen kann. In einer Landschaft, die von einer Überschwemmung betroffen ist, werden manche Stellen mehr und andere weniger betroffen sein. Dennoch werden die Aufräumarbeiten deren Geschäftsmodell beeinträchtigen, sodass eine Investition in Schwellenländern momentan ein absolutes No-Go ist, da das Wasser dort momentan abfließt. Ich warte ab, bis das Ausmass der Sedimente zu Tage kommt.

Momentan herrscht ein enormes Aufblähen von Schattenbanken in den Vereinigten Staaten von Amerika, da ganze Transaktionen per Regulierung verboten sind und dort hin abfliessen. Wie schätzen sie dort die Risiken dieses Systems ein?

Ich erkenne nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika sondern insbesondere in China ein riesiges Schattenbankensystem. Vor allem behaftet mit extremen Gefahren, da dort Zinssätze im hohen zweistelligen Bereich vorherrschen. Bei einem jetzigen offiziellen Wirtschaftswachstum von 7% – real sind es wohl deutlich weniger – und wesentlich höheren Zinssätzen in diesem Schattenbankensystem, ist es nur eine Frage der Zeit bis das System diese Zinssätze nicht mehr bedienen kann. Das Wirtschaftswachstum kann diese schlichtweg nicht mehr hergeben. Die Gefahr eines Kollapses dieses Schattenbankensystems wird von Tag zu Tag größer. In den U.S.A herrscht die gleiche Gefahr, da sich abseits ebenfalls viel getan hat: grosse Finanzhäuser lagern ihre bisher üblichen Geschäfte aufgrund von Regulierungen aus. Die Bank für internationalen Zahlungsausgleich hat sich zu dieser Situation sehr deutlich geäußert und sagt dass die Finanzwelt und die Banken weniger stabil sind als vor der Krise und es solch große Gefahren gibt, dass es durchaus wieder zu starken Verwerfungen der Finanzmärkte kommen kann.

Das Gespräch hat viele politische und finanzregulatorische Themen angesprochen. Können überhaupt wirklich profunde Einschätzungen gemacht werden oder sind Börsen einfach ein Glücksspiel, dass viel zu komplex zu verstehen ist?

Da haben Sie vollkommen Recht. Personen, die wüssten wo der Dax am Ende eines Jahres steht, reden Scharlatan. Sie werden niemanden auf Gottes Erdboden finden, der in der Lage ist, die gesamte Komplexität unseres Finanz- und Wirtschaftssystems zu erfassen und zu kalkulieren. Es ist eine unendliche lange Kette an Variablen. Nur von sehr wenigen dieser Variablen kennen wir eine absolute Zahl und selbst von diesen Wenigen wissen wir noch nicht einmal, wie belastbar sie sind. Bei vielen Zahlen wissen wir sogar, dass sie gar nicht stimmen. Ebenso wenig wie ein Bundestrainer sagen kann – obwohl er sich intensiv damit beschäftigt – wie das nächste Spiel ausgeht, da schlichtweg zu viele Variablen im Spiel sind, die man im Vorfeld nicht kalkulieren kann. Was die volkswirtschaftlichen Abteilungen ausschliesslich machen können, ist zu versuchen, sich auf Grundlagen von Erfahrungen der Vergangenheit Hilfsbrücken zu bauen. Konstellationen, die schon einmal miteinander vergleichbar waren, haben in der Vergangenheit dies oder jenes Ergebnis gebracht. Davon muss abgeleitet werden, ob es diesmal vielleicht ähnlich sein könnte. Natürlich haben sich in der Zwischenzeit unzählige andere Parameter verändert, so dass man immer nur mit einer grossen „Demut“ benennen und sagen kann, es gebe eine gewisse Wahrscheinlichkeit dass ein jener Fall eintreten wird. Behauptet jemand, eine sichere Prognose abzugeben, so ist das Scharlatanerie. Es kann nur versucht werden, Wahrscheinlichkeiten abzustecken.

Abschlussfrage: Ein Student hat 1000 Franken – was sollte er Ihrer Meinung nach derzeit damit anstellen?

Seine Freundin schnappen und schön’ Party machen.

Wir danken für das Gespräch Herr Müller.

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Dirk Müller ist Finanzexperte, mehrfacher Spiegel-Bestseller Autor, Vortragsredner, Politikberater, Gründer des Medienhauses Cashkurs.com – und gilt als „Dolmetscher zwischen den Finanzmärkten und den Menschen außerhalb der Börse“. Sein Weg an der Börse begann 1992, heute zählt er zu den bekanntesten Gesichtern des Börsenparketts. Von vielen Medien wird er daher auch gerne Mr. DAX genannt.