Herr Feld, die letzten wie auch die zukünftigen Jahre stellen für die Staatsfinanzen vieler Länder eine Herausforderung dar: Es sind Investitionen in den Klimaschutz und die Digitalisierung nötig, die Rückzahlung von Corona-Schulden steht an und die momentane geopolitische Lage zwingt viele Staaten zu höheren Ausgaben in ihren Sicherheitsapparat. Wie soll ein Staat diese Ausgaben stemmen, ohne neue Schulden aufnehmen oder die Steuern erhöhen zu müssen?

Die öffentlichen Haushalte in Deutschland haben im Zeitablauf relativ hohe Spielräume für öffentliche Investitionen. Herausforderungen wie den Klimawandel, den technischen Fortschritt im Zuge der Digitalisierung und vor allem den demografischen Wandel, den wir in Deutschland und der Schweiz stärker verspüren als andere Länder, muss man im Rahmen der normalen finanziellen Möglichkeiten bewältigen.
Ausserdem geht es dabei nicht nur um staatliche Investitionen, nicht einmal bei der Digitalisierung, bei der nicht zuletzt der Datenschutz oder das Planungsrecht für Investitionen eine Rolle spielen. Beim Thema Demografie geht es um Transfers. Dadurch geraten die Sozialsysteme unter Druck. Transfers sollten aber nicht über Staatsschulden finanziert werden. Was im Klimaschutz für die Transformation der Wirtschaft zur Klimaneutralität erforderlich ist, muss vor allem über private Investitionen geleistet werden. Unternehmen und private Haushalte tätigen 90 Prozent der Investitionen in Deutschland. Der Staat sollte beim Klimaschutz vor allem eine hinreichend hohe CO2-Bepreisung durchsetzen, um den externen Effekt zu internalisieren, begleitet durch internationale Vereinbarungen, damit andere Staaten bei einem Klimaklub mitmachen. Dadurch nimmt der Staat Geld ein, das er wieder an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben kann, um ungünstige Verteilungseffekte der CO2-Bepreisung zu korrigieren. Somit sollte nicht mit relevanten Mehrausgaben für diesen wichtigen Teil der Klimapolitik gerechnet werden.
Begleitend gilt es, Innovationen für Klimaneutralität gerade im technologischen Bereich sicherzustellen. Da ist der Staat nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch in der angewandten Forschung und der Schnittstelle zu den Unternehmen gefragt. Hauptsächlich bleiben es aber die Unternehmen, die für die Klimaneutralität investieren müssen. Beim Klimaschutz kann der Staat nicht die Investitionen übernehmen, die private Unternehmen durchzuführen hätten, um daraufhin ordentliche Gewinne einzustreichen. Es kann nicht sein, dass der Staat Kosten der Unternehmen übernimmt, diese aber die Gewinne realisieren. Bei Subventionen für den Klimaschutz sollte sich der Staat daher zurückhalten.
Im Hinblick auf aussenpolitische Herausforderungen habe ich im Jahr 2019 bei einem Vortrag am Schweizer Institut für Auslandforschung bereits darauf hingewiesen, dass diese die Wirtschaftspolitik vor die grössten Herausforderungen stellen werden. Jetzt zeigt sich dies, wenn auch von Seiten Russlands und nicht von Seiten Chinas, wie ich es erwartet hätte. Das stellt uns vor die Frage, was finanzpolitisch zu tun ist. Und die Lösung, die Deutschland angesichts des Ukraine-Kriegs wählt, ist ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, das im Grundgesetz verankert wird und damit nicht unter die Schuldenbremse fällt.

Sie haben angesprochen, dass der Klimaschutz nur dann funktionieren kann, wenn man mit anderen Staaten zusammenarbeitet und wenn Beschlüsse auch flächendeckend umgesetzt werden. Gleichzeitig haben wir aber aktuell eine sehr angespannte geopolitische Lage. Sehen Sie nicht das Problem, dass eine Umsetzung, welche alle grossen Akteure verpflichtet, momentan kaum umsetzbar ist?

Betrachtet man die globalen Hauptemittenten, ist Russland für einen Klimaklub weniger bedeutsam. Zunächst ist es erforderlich, die Partner in der Europäischen Union von der Richtigkeit dieser Klimaschutzpolitik zu überzeugen, auch von einer CO2-Bepreisung für alle Sektoren und nicht nur für die jetzt schon im EU-Emissionshandel erfassten Branchen. In einem zweiten Schritt sind vor allem mit den USA und China Vereinbarungen zu treffen. Die drei grossen Wirtschaftsräume, die in ihren Wertschöpfungsketten jeweils eng miteinander verknüpft sind, müssen zusammenarbeiten. Letztlich haben dann andere Staaten wie Südafrika, Indien und Brasilien einen Anreiz beizutreten. Klimaklub heisst auch immer, dass Vorteile auf der Handelsseite für Nichtmitglieder unerreichbar sind. So können Anreize gesetzt werden, dem Klimaklub beizutreten. Aufgrund des Krieges von der Idee eines Klimaklubs abzuweichen, halte ich für falsch. Das würde bedeuten, beim Klimaschutz zu scheitern. Deutschland allein wird das nicht stemmen können. Wir können unsere ganze Wirtschaft auf Klimaneutralität umstellen, in der Welt damit aber nichts ändern.

Dabei würde der Anteil Deutschlands an den globalen Emissionen mit 2% wohl auch nicht bedeutend genug sein.

Deutschland ist viel zu klein. Ausserdem diskutieren wir immer wieder nur über erneuerbaren Energien. Die können für den Stromverbrauch genutzt werden und vielleicht schaffen wir es irgendwann, Strom vollständig durch erneuerbare Energien zu generieren. Strom macht jedoch nur rund ein Viertel der Klimabilanz Deutschlands aus. Das heisst, wir werden irgendwann intensiver über «Carbon Capture» reden müssen. Auch über die Frage, ob man zusammen mit «Carbon Capture» synthetische Kraftstoffe herstellen kann, sodass eine Kreislaufwirtschaft entsteht. Das sind alles Themen, die heute technisch schon möglich, aber noch nicht wettbewerbsfähig und zu teuer sind. Allerdings würden sie mit entsprechenden CO2 Preisen wettbewerbsfähiger werden.

Würden Sie sagen, der Staat solle sich also darauf konzentrieren, hauptsächlich Rahmenbedingungen für Innovationen zu schaffen?

Ich bin, was die Schnittstelle zwischen Innovationspolitik und Industriepolitik anbetrifft, durchaus pragmatisch. Wenn man in Deutschland ein Fraunhofer Institut gründet, das angewandte Forschung in bestimmten Technikbereichen betreibt, dann trifft man eine gewisse industriepolitische Entscheidung. Das ist dann nicht mehr technologieoffen. Aber bis zu dieser Entscheidung muss man für die vielen Technologien offen sein und nicht nur auf eine setzen. Es kommt auf Innovation an und da reicht es nicht aus, wenn der Staat meint, er habe die richtigen Technologien identifiziert, sondern er muss technologieoffen bleiben und die richtigen Rahmenbedingungen für Innovationen setzen. Vor drei Jahren, als wir Industriepolitik in Deutschland intensiv diskutiert haben, da hat niemand gedacht, dass wir die wichtigste Neuerung in den Jahren 2020 und 2021 durch die Impfstoffproduktion bekommen.

Sie haben das Sondervermögen für die Bundeswehr bereits kurz angesprochen. Wieso sind „sofort“ 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr vorhanden, welche dann bei Sozialthemen gekürzt werden müssen, wenn zusätzliches Geld für Sozialthemen vorher aber nie vorhanden waren? Handelte es sich hierbei um eine überstürzte Reaktion?

Ich würde nicht sagen, dass es eine überstürzte Entscheidung war. Die deutsche Politik trifft zwar selten so schnelle Ad-hoc-Entscheidungen wie in diesem Fall. Und mit der ebenso rasch beschlossenen Energiewende wurde eine wirklich teure, übereilte Lösung gewählt. Ich hoffe aber, dass mit diesem Sondervermögen und der Veränderung in der Verteidigungspolitik, die sich mit dem Ukrainekrieg ergeben hat, kontinuierlich bessere und weniger teure Lösungen zustande kommen. Es reicht zudem nicht aus, der Bundeswehr mehr Geld zu geben. Die Bundeswehr braucht zusätzlich Reformen. Insbesondere das Beschaffungswesen ist seit Jahren reformbedürftig. Da ist die Verteidigungsministerin gefordert, ein entsprechendes Konzept vorzulegen.
Mit dem Ukrainekrieg steht in gewisser Form eine Zeitenwende an. Wir sind in Europa davon ausgegangen, nur noch eine lange, friedliche Phase der Kooperation, manchmal auch mit schwierigen Partnern vor uns zu haben. Dass sich das bewerkstelligen lässt und autoritäre Regime wie das russische oder das chinesische Regime in das Weltgefüge einbinden lassen, war die lange vorherrschende Vision. Francis Fukuyamas Idee vom „Ende der Geschichte“ war von der Vorstellung geprägt, am Ende dieser vielen Konflikte zu sein. Das hat sich nicht bewahrheitet. Einen Angriffskrieg auf ein demokratisches und rechtsstaatliches Land in Europa ist ein Angriff auf den Westen. Deutschland als wirtschaftlich zweitstärkstes Land der NATO, das am meisten abgerüstet hat und die Friedensdividende am stärksten genutzt hat, ist weit davon entfernt, mit der Verteidigungspolitik an der zweiten Stelle zu stehen. Deutschland hat die Bundeswehr immer mehr in ihrer Bedeutung, ihrer Ausstattung und in ihrer Verteidigungsfähigkeit zurückgedrängt. Es ist jetzt schon absehbar, dass es für Putin ein Irrsinn war, in die Ukraine einzumarschieren. Bei einem solchen Irrsinn ist aber ein nächster Angriffskrieg nicht ausgeschlossen. Dann wäre der Verteidigungsfall für die NATO gegeben. Darauf muss sich das Verteidigungsbündnis jetzt vorbereiten. Weil die USA zudem einen Schwerpunkt in Asien gegenüber China setzen müssen, ist Deutschland in Europa gefordert, eine grössere Rolle zu übernehmen. Dafür ist ein solches Sondervermögen da. Konsequent zu sagen, wir werden viel Geld investieren, ist ein Element der Abschreckung und ein Grund dafür, warum relativ schnell gehandelt wurde. In so einer Situation geht es auch immer um das politische Moment, relativ schnelle Entscheidungen zu treffen, bevor alles zerredet wird. Mit der Grundgesetzänderung sorgt man dafür, dass die überjährige Finanzierung der Bundeswehr möglich ist und bindet die Opposition ein, die dann ihrerseits wiederum darauf drängen wird, die Mittel nur für die Bundeswehr einzusetzen.
Gleichwohl stehen irgendwann Tilgungszahlungen für die höhere Verschuldung der Jahre 2020, 2021 und 2022 an, die ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zu zahlen sein werden und die haushaltspolitischen Spielräume der zukünftigen Regierungen einschränken. Man wird also diskutieren müssen, wie man das strukturelle Finanztableau zum Ausgleich bringt. Unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung kommt der Bund dabei nicht am Sozialhaushalt vorbei, weil dieser über 40% des Bundeshaushalts ausmacht.

Wie schätzen Sie, werden die Tilgungszahlungen den Bundeshaushalt zukünftig beeinträchtigen?

Wir werden im Normalfall weiter einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes haben. Selbst in einer reichen Volkswirtschaft wie Deutschland bedeutet 1% reales BIP-Wachstum eine Einkommensverdoppelung in rund 70 Jahren. Wir haben also Einnahmesteigerungen und müssen dafür sorgen, dass die Ausgabensteigerungen geringer ausfallen. Am einfachsten ist dies bei den Renten. In der nächsten Legislaturperiode wird der Druck, sich um eine Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zu kümmern, umso grösser sein. Die Tilgungszahlungen werden wahrscheinlich über 30 Jahre zu leisten sein und voraussichtlich 2027 einsetzen. Somit kommen sie genau zu dem Zeitpunkt, in dem man aufgrund der demografischen Entwicklung eine Korrektur brauchen wird. Der finanzpolitische Druck für ein höheres gesetzliches Renteneintrittsalter wird somit sehr gross sein.

Sie haben in der Vergangenheit die Politisierung des Mindestlohnes kritisiert. Nun steht die Erhöhung auf 12€ an. Wie würden Sie einer im Niedriglohnsektor tätigen Person die Kritik an einer Erhöhung nachvollziehbar erklären?

In der Lohnpolitik wird vor allem aufgrund des Drucks, der von der Gewerkschaftsseite kommt, vernachlässigt, dass Löhne Kosten sind. Das heisst, für Unternehmer und Unternehmerinnen muss sich der Aufwand rechnen. Für die Dienstleistungsbranchen und für Ostdeutschland sind 12€ ein gewaltiger Schritt nach oben. Es wird dort eine Reihe von Unternehmen, vor allem im Gastgewerbe geben, die das nicht tragen können und schliessen müssen. Gleiches gilt für andere Dienstleistungen wie Friseure und Ähnliches. Ob daraus Arbeitslosigkeit entsteht, hängt davon ab, wie der Arbeitsmarkt insgesamt aussieht und ob er in solchen Unternehmen freigesetzte Arbeitnehmerinnen und Arbeiter in anderen Beschäftigungen auffängt. Bestimmte Dienstleistungen werden wie bei der Einführung des Mindestlohns ganz wegfallen.
Dazu gibt es verschiedene Untersuchungen. Die Mehrzahl dieser Studien zeigt, dass insgesamt etwa 80‘000 bis 100‘000 Arbeitsplätze bei Einführung des Mindestlohns verloren gegangen sind. Angesichts der guten konjunkturellen Entwicklung war dies nicht einschneidend und die Arbeitslosigkeit ist insgesamt nicht angestiegen. Unternehmen, die nicht produktiv genug waren, um diesen Mindestlohn zu finanzieren, haben geschlossen und die Beschäftigten aus diesen Unternehmen sind in produktivere Beschäftigung gegangen. Ausweichreaktionen für die Unternehmen am Arbeitsmarkt sind somit damals schon genutzt worden. Die weiteren Erhöhungen nach 2015 waren dann moderat und arbeitsmarktgerecht. Es ist jedoch fraglich, ob bei dem stärkeren Anstieg auf 12€ diese Möglichkeiten noch im gleichen Masse bestehen. Es besteht die Gefahr eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit.
Wie ich das Betroffenen erklären würde? Wenn man sagt, Menschen werden arbeitslos, dann höre ich „das ist letztes Mal nicht passiert“. Wenn man sagt, wir zeigen in den Studien, wieviel Arbeitsplätze nicht entstanden sind, sondern verloren gegangen sind, dann höre ich „man sieht das doch gar nicht“. Differenzierende kausale Effekte und die absoluten Zahlen in deskriptiven Statistiken sind für viele Beobachter zwei unterschiedliche Dinge. Das ist schwer zu vermitteln.

Wo wir gerade bei der Politisierung sind. Was halten Sie von Mitteln wie Enteignung und Mietendeckel zur Linderung der Wohnungsnot in Städten wie zum Beispiel Berlin? Gäbe es dafür bessere Mittel?

Lassen Sie mich mit der Mietpreisbremse starten. Sie behindert Investitionen in neue Gebäude und grundsanierte Wohnungen nicht und belastet damit das Angebot an Mietwohnungen weniger. Dass dann hauptsächlich teurere Wohnungen entstehen, ist für die Mietentwicklung kontraproduktiv, aber für die energetische Gebäudesanierung förderlich. Daher sollte die Mietpreisbremse nur temporär bleiben, weil sie ansonsten die Probleme verschärft.
Der Wohnungsbestand ist in Deutschland weiterhin stark reguliert. Wenn sie sich die Mietpreisentwicklung anschauen, ist die Entwicklung bei den Bestandsmieten bei Weitem nicht so dynamisch wie die Neubauvermietung in den sieben grössten deutschen Städten. Das zeigt, wie häufig dieses Thema als soziale Frage verzerrt politisiert wird.
Der Mietendeckel war verfassungswidrig. Das Land Berlin hatte keine Kompetenz zur Regulierung. Auf einem anderen Weg mit Enteignungen zu operieren, ist meines Erachtens ebenfalls grundgesetzwidrig. Ökonomisch führt ein solcher Mietendeckel zu dem Versuch von Vermietern, rechtzeitig ihre Wohnungen abzustossen. Wenn das nicht gelingt, werden sie nicht mehr investieren und es kommt zum Verfall der Wohnungen im Zeitablauf.
Der Allokationsmechanismus, der dann zustande kommt, ist ein weiteres Problem. Man zahlt teure Abstandszahlungen für Küchen, die unbrauchbar sind. Oder es kommt zu statistischer Diskriminierung von Familien mit Kindern, Ausländerinnen und Ausländern und so weiter. Da scheint mir der Preismechanismus attraktiver. Dieser ist deutlich freiheitsfreundlicher und antidiskriminierend.
Wenn man wie in Berlin weiter über Mietendeckel und Enteignungen spricht, werden sich viele Investoren überlegen, ob sie weiter Wohnungen bauen sollen. Viele bauen dann eher Gewerbe- oder Logistikimmobilien. Das ist ein grosses Problem für die Stadt Berlin. Hamburg betreibt eine bessere Wohnungspolitik und setzt stark auf Neubau, das allerdings auch so reguliert, dass eine grössere Durchmischung in den Wohnquartieren realisiert wird.

In Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich ausserdem viel mit dem Thema Steuerwettbewerb. Die beschlossene, globale Mindeststeuer soll vor allem grossen, internationalen Konzerne die Steuerflucht schwer machen. Glauben Sie, dass die Umsetzung die grösstenteils im Fokus stehenden Tech-Konzerne in den USA tatsächlich treffen werden?

Zuerst muss ich sagen, zur Besteuerung der Digitalkonzerne herrscht aus europäischer Sicht eine gewisse Illusion. Wir haben in der internationalen Besteuerung immer noch das Grundprinzip, Konzerne dort zu besteuern, wo sie ansässig sind. Bisher ist man auch nicht bereit, vollständig auf das Quellenprinzip überzugehen, weil ein Umstieg massive Verschiebungen in der Einnahmesituation für die Länder weltweit zur Folge hätte. Die Digitalkonzerne konnten die Besteuerung im Sitzland USA umgehen, indem sie Mechanismen in Irland, Bermuda und insbesondere den Niederlanden genutzt haben, die nahezu zu einer Nullbesteuerung geführt haben. Die dazu genutzten Regeln basieren auf Ausnahmen, die für die Forschungsförderung existieren. Ein Mechanismus, der eingesetzt worden ist, sind Lizenzboxen. Dadurch konnte man die Gewinne buchhalterisch nach Bermuda verschieben. Das hat sich in den USA schon unter Donald Trump mit dem „tax cuts and jobs act“ geändert, der eine Mindestbesteuerung eingeführt hat. Dies hat zu kräftigen Kapitalflüssen aus Steueroasen in die USA geführt. Unverändert zahlen grosse Tech-Konzerne aufgrund der Forschungsförderung in den USA weiterhin wenig Steuern, auch wenn sie vor Ort nun stärker besteuert werden. Das ist die Ausgangssituation, mit der die OECD-Verhandlungen gestartet sind. Die Amerikaner haben sich dabei mit der Mindeststeuer durchgesetzt, die ungefähr dem entspricht, was sie sowieso schon haben. Deren Aufwand ist somit gering und alle anderen Staaten sollen nun nachziehen. Die Tech-Konzerne werden davon jedoch kaum betroffen sein. Staaten wie die Schweiz oder Irland mit einer niedrigeren Steuerbelastung werden sich jedoch neu ausrichten müssen. Letztendlich bleibt irgendeine Form von Steuerwettbewerb in solchen Systemen immer übrig.
Die vielen Diskussionen auf Weltebene, ob das jetzt bei der OECD oder den G20 ist, sind für mich scheinheilig. Viele Steueroasen sind protegierte Gebiete der Briten oder Amerikaner. Die Virgin Islands, die Cayman Islands, Bermuda oder Singapur sind letztendlich von den Briten oder Amerikanern geschützte Gebietskörperschaften. Dann kommt es zu Verhandlungen zur Beschränkung des Steuerwettbewerbs, aber in ihren Protektoraten nehmen sie keinen direkten Einfluss, um den Steuerwettbewerb zu unterbinden. Wenn sie das nicht machen, was machen sie dann? Sie sorgen dafür, dass die Kosten der Niederlande, der Schweiz, Belgiens und weiterer europäischer Länder mit besonderen Regeln zur steuerlichen Begünstigung im Steuerwettbewerb angehoben werden. Das ist ein typisches Spiel des „Raising Rivals‘ Costs“ im internationalen Wettbewerb.

Wie würden Sie das aktuelle Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft beschreiben? Handeln Politikerinnen und Politiker Ihrer Meinung nach zu sehr mit dem Blick auf die als Nächstes anstehenden Wahlen?

Mittlerweile habe ich viel Erfahrung in der Politikberatung gesammelt und ich glaube, wir haben durchgehend das Problem, füreinander zu wenig Verständnis zu haben. Das zeigt sich besonders in Krisensituationen, wenn moralische und emotionale Aspekte hochkochen. Verständnis ist eine Form von Rationalität, die bei hochemotionalen Debatten schwer aufrecht zu erhalten ist. Die Mechanismen in der Wissenschaft und der Politikberatung sind ganz andere als diejenigen der Politik. Politik will immer klare Botschaften aus der Wissenschaft. Das können Wissenschaftler aber nicht bieten. Es gibt Unsicherheit bei den vorliegenden Forschungsergebnissen. Harry Truman hat sich bereits einen einarmigen Ökonomen gewünscht, der nicht immer „on the one and on the other hand“ sagen kann. Umgekehrt haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kein Verständnis für die Politik und den Zwängen, denen sie unterliegt. Manchmal muss die Politik etwas machen, obwohl man am besten nichts tun würde, einfach aufgrund des politischen Drucks. Deshalb glaube ich, es wäre vernünftig, wenn alle Ökonominnen und Ökonomen eine solide Ausbildung in politischer Ökonomie bekämen.

Ihre Expertise ist von der Politik zu grossen Teilen sehr geschätzt. Könnten Sie sich in der Zukunft vorstellen, ein politisches Mandat auszuüben, um direkten Einfluss bei wirtschaftspolitischen Themen haben zu können?

Ich fühle mich in der Rolle, in der ich gerade bin, sehr gut aufgehoben. Ausserdem kenne ich die politischen Mechanismen nicht nur analytisch, sondern auch aus erster Hand gut genug. Deshalb weiss ich, welchem Druck die Politiker ausgesetzt sind. Es ist ein Knochenjob. Dieser wird dann ausserdem im Vergleich zu ähnlichen Positionen in der Wirtschaft relativ gering vergütet. Permanent in der Öffentlichkeit zu stehen und persönlich angegriffen zu werden, muss zum Hinterfragen der Motivation für diesen Job führen. Es muss viel intrinsische Motivation dabei sein. Vielleicht spielt Macht auszuüben eine Rolle. Für mich ist das unattraktiv und gegen eine solche Karriere habe ich mich frühzeitig entschieden.

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Herr Feld ist deutscher Volkswirt und Finanzwissenschaftler. Seit September 2010 leitet er das Walter Eucken Institut und ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg. Zwischen März 2020 und Februar 2021 hielt er den Vorsitz des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung inne. Mitglied dieses Gremiums war er bereits seit März 2011. Im Februar 2022 bestellte Christian Lindner Herrn Feld zum Persönlichen Beauftragten des Bundesministers der Finanzen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.