Keine Zeit für Zukunftsvisionen

In der vergangenen Dekade hat die digitale Transformation an erster Stelle Menschen verbunden, in der aktuellen ist das Zeitalter des Internets der Dinge im vollen Gang – und dies für alle Bereiche von der Infrastruktur über Energieversorgung hin zu den Industrien. Die Vernetzung hat sich deutlich beschleunigt, nicht zuletzt „notgedrungen“ aufgrund der Pandemie. Bei gegenwärtig ca. 7 Milliarden vernetzten Geräten rechnen wir bis zum Ende des Jahrzehnts mit mehr als 16 Milliarden. Ein Wachstum, das viel Potential birgt und uns schon heute faszinierende Möglichkeiten bietet, die wir sinnvoll nutzen sollten. Die sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zeichnen düstere Visionen für unsere globale Zukunft. Wissenschaft und Aktivisten sind sich hier (ausnahmsweise) einig: Wir müssen jetzt handeln, um überhaupt noch eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie im Pariser Abkommen vereinbart. Viele Technologien dafür haben wir schon heute an der Hand, und es liegt an uns, die ersten zaghaften Schritte hin zur Dekarbonisierung in einen Sprint zu beschleunigen.

Wieviel CO2 fiel bei der Herstellung meines Mobiltelefons an?
Diese Frage sollte jeder in Zukunft beantworten können!”

Wir können viel erreichen, wenn wir existierende Technologien und digitale Effizienz in die Breite unserer globalen Wirtschaft tragen. Bei Siemens haben wir hierfür sehr konkrete Beispiele. Bevor wir jedoch über einzelne Technologien reden, müssen wir zunächst Transparenz schaffen. Hinter vielen Produkten stehen globale Lieferketten und Transportwege. Wieviel CO2 fiel bei der Herstellung meines Mobiltelefons an? Diese Frage sollte jeder in Zukunft einheitlich und verlässlich beantworten können und das idealerweise schon beim Kauf berücksichtigen können.

Jede Lebensphase eines Produkts hat Auswirkungen auf unsere Umwelt. Insbesondere klimarelevante Emissionen, die im sogenannten Product Carbon Footprint (PCF) quantifiziert werden, stehen im Vordergrund. Transparenz zu schaffen, ist eine überraschend komplexe Aufgabe, denn der PCF eines Produktes kann nur ermittelt werden, wenn die Angaben zu allen Komponenten, Rohstoffen und Transportwegen vollständig und genau sind. Viele Hersteller stehen hier vor einem Dilemma, denn oft entsteht ein großer Anteil des PCF nicht im eigenen Hause, sondern bereits in der Lieferkette der zuliefernden Betriebe. Siemens hat im November 2021 eine gemeinschaftliche Lösung präsentiert bzw. initiiert, das Estainium Netzwerk. Estainium ist ein offenes, dezentrales Netzwerk, auf dem alle an einem Produkt beteiligten Partner Daten zu Emissionen austauschen können. Die erste, eigens hierfür entwickelte Software (SiGreen) basiert auf energiesparender Blockchain-Technologie und ermöglicht es Unternehmen, gezielte Reduktionsmaßnahmen mit quantifizierbarer Wirkung zu ergreifen. Das ist ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einer klimaneutralen Produktion, und so können wir als Siemens gemeinsam mit Partnern das Thema Nachhaltigkeit als entscheidenden Wettbewerbsfaktor nutzen.

Digitaler Zwilling – ein Konzept, viele Möglichkeiten

Wir müssen unsere Produktion, Energieerzeugung und Mobilität grundlegend verändern. Ein wichtiges Instrument hierfür ist der digitale Zwilling, also ein virtuelles Abbild einer realen Maschine oder auch einer Struktur wie etwa eines Gebäudes oder Zugs. Mit digitalen Zwillingen können industrielle Prozesse optimiert und neue Geschäftsmodelle mit unseren Kunden erzeugt werden.

Was bringt uns das auf der industriellen Seite? Ein digitaler Zwilling erlaubt nicht nur, Produkte oder Infrastruktur schneller zu entwerfen, zu simulieren und herzustellen. Er ermöglicht auch, die Lösungen nach Wunsch besonders günstig, leistungsstark, robust und umweltfreundlich zu gestalten. Zudem kann der digitale Zwilling ein Produkt wie ein „digitaler Schatten“ durch alle Stufen der Wertschöpfungskette begleiten – von der Herstellung über den Betrieb bis hin zum Service oder gar Recycling. Wir schaffen es, mehr mit weniger Ressourcen zu erreichen. Hier kommt unser Konzept des grünen digitalen Zwillings ins Spiel. Ein Beispiel:

Beispiel Hawaii: 100% Integration von erneuerbaren Energien in bestehende Netze ist möglich!

Hawaii ist mit ausreichend Wind und Sonne gesegnet, um seinen Strombedarf zu 100% aus diesen erneuerbaren Quellen decken zu können. Eigentlich – wenn da nicht die Tücken des Stromnetzes wären. Denn dieses stammt, wie praktisch überall auf der Welt, noch aus Zeiten, in denen fossile Energieträger den größten Teil der Stromlast produzierten. So auch auf Big Island, der größten Insel der hawaiianischen Kette. Die Einspeisung durch fossile Energie und durch erneuerbare Quellen unterscheidet sich technisch grundlegend. Netzdynamik und Netzstabilität ändern sich fundamental, sobald der Anteil erneuerbarer Stromeinspeisung ein kritisches Maß übersteigt und konventionelle Kraftwerke abgeschaltet werden. Die Herausforderung ist also, den Strombedarf möglichst zu 100% aus erneuerbaren Quellen zu decken und gleichzeitig die Netzstabilität zu garantieren. Die Lösung dieses Problems war nur möglich und erfolgreich aufgrund der engen Zusammenarbeit unterschiedlicher Player – dem hawaiianischen Energieversorgungsunternehmen Hawaiian Electric Company, dem Forschungsinstitut Pacific Northwest National Laboratory, OPAL-RT Technologies als Echtzeitsimulationsspezialist und Siemens. Ein digitaler Zwilling des hawaiianischen Stromnetzes und ein digitales Assistenzsystem ermöglichen umfangreiche Simulationen, wie sich das Netz bei steigenden Anteilen erneuerbarer Energieformen verhält. Hunderte Solar- und Windanlagen wurden in dieses System integriert, und letztlich haben wir die Simulationen in einen Demonstrator überführt, der das reale Verhalten von Hawaii widerspiegelt. In diesem Demonstrator konnte das hawaiianische Netz so weit betrieben werden, dass der Anteil erneuerbarer Energie in der Spitzenlast auf 100% erhöht wurde ohne Gefahr eines Stromausfalls. Zusätzlich ist das Assistenzsystem zukunftsfähig skalierbar, die Kapazität könnte von aktuell 200 MW auf mehrere GW ausgebaut werden, was z.B. dem Bedarf Irlands entspricht.

Das Bindeglied und die technologische Basis dieser beiden Technologiefelder ist das industrielle Internet der Dinge (IIoT). Die Voraussetzungen für den weiteren Ausbau sind technischer, aber auch politischer Natur. Themen wie das industrielle Internet 5G, Datensouveränität und Cloudtechnologien sollen hier nur am Rande erwähnt werden.

Noch ein Wort zum Schluss: Die Aussage, dass wir keine Zeit für Visionen haben, stimmt, wenn wir uns der Dringlichkeit der globalen Herausforderungen bewusst sind. Dennoch müssen wir uns auch in Zukunft den Raum für große Ideen geben. Kreativität und Erfindergeist waren und sind gemeinsam Treiber für den Fortschritt!

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Peter Körte ist seit Februar 2020 Chief Strategy Officer der Siemens AG und seit Oktober 2020 zusätzlich Chief Technology Officer. Körte begann seine Laufbahn bei BCG und kam 2007 zu Siemens in die Konzernstrategie. 2011 wechselte er in die Medizintechnik bei Siemens, wo er in mehreren leitenden Funktionen in der Diagnostik-Sparte tätig war.