Sie sind studierter Wirtschaftsmathematiker und Aktuar und starteten Ihre Karriere zunächst ausserhalb der Allianz. Inwiefern hat Ihr analytischer Hintergrund Ihre Perspektive als Führungskraft geprägt? Gab es Schlüssel-Erfahrungen in Ihrer Laufbahn, die heute noch Ihren Managementstil beeinflussen?
Natürlich hat das, was man an der Universität lernt, Auswirkungen darauf, wie man führt. Da ich ein sehr analytischer Mensch bin, bin ich stark datenorientiert und versuche, meine Entscheidungen immer analytisch zu untermauern und kritisch zu hinterfragen. Wenn ich etwas umgesetzt habe, überwache ich es regelmässig, um zu prüfen, ob es tatsächlich die Ergebnisse bringt, die wir uns vorher erhofft haben.
In einer zunehmend dynamischen Welt ist das noch wichtiger geworden. Die Welt verändert sich schnell, Anforderungen verändern sich schnell, Technologie verändert sich schnell. Was gestern funktioniert hat, muss heute nicht mehr funktionieren und was heute funktioniert, muss morgen nicht zwingend erfolgreich sein. Insofern müssen wir unsere Massnahmen immer wieder überprüfen.
Das ist der grundlegende Hintergrund, den ich in meine Führung einbringe. Meine Mitarbeitenden wissen auch, dass sie bei mir nicht mit Bauchgefühl argumentieren müssen. Ich erwarte, dass man überlegt, wie man etwas vernünftig untermauern kann.
Ich war lange selbstständig – ebenfalls rund um die Themen Mathematik und Versicherungen. Dadurch habe ich viele Menschen aus diesem Bereich kennengelernt. Nachdem ich mein Unternehmen verkauft hatte, kam das Angebot der Allianz.
Dass ich dann sehr plötzlich in den Privatkundenvorstand gerutscht bin, war zu Beginn durchaus eine Herausforderung. Es gab viele Dinge, die ich schlicht nicht kannte und für die ich plötzlich Verantwortung hatte. Es hat gut funktioniert, weil ich nie zu stolz war, auch «doofe Fragen» zu stellen. In dem Bereich, aus dem ich kam, konnte mir niemand etwas vormachen. In den anderen Bereichen habe ich hingegen offen zugegeben, wenn ich etwas nicht wusste.
Es ist wichtig, Fragen zu stellen, bis man das grosse Ganze verstanden hat. Erst wenn man weiss, welche Auswirkungen eine Entscheidung an anderen Stellen auslöst, kann man bewusst steuern. Das hat wahrscheinlich auch dazu geführt, dass ich schliesslich CEO der Allianz Versicherungs-AG geworden bin.
Sie übernahmen im April 2020 den Vorstandsvorsitz der Allianz Versicherungs-AG – fast genau zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Wie war es, in einer solchen Ausnahmesituation die Führung zu übernehmen? Mussten Sie Ihre Prioritäten als neuer CEO aufgrund der Krise neu setzen, und was haben Sie gelernt?
Im ersten Augenblick hatte ich schon etwas Panik. Ich hatte plötzlich Verantwortung für 9’000 Menschen – und auf einmal konnten alle nicht mehr ins Büro. Damals wusste man noch nicht genau, wie gravierend die gesundheitlichen Auswirkungen sein würden.
Die wichtigste Massnahme war daher – und das ist natürlich leichter, wenn man ein gutes Team hat – zunächst sicherzustellen, dass alle gesund bleiben. Deshalb Homeoffice, wo immer es möglich war, und im weiteren Verlauf Hygienemassnahmen, Abstandsregelungen und alles, was wir umsetzen konnten, um die Gesundheit unserer Mitarbeitenden zu schützen. Natürlich in erster Linie ihretwegen, aber auch, damit wir weiterhin unseren Job machen können. Auch während Corona sind Schäden entstanden, die reguliert werden mussten, und Versicherungen wurden weiterhin abgeschlossen.
Der zweite grosse Aspekt war die Frage: Was bedeutet das für unsere Kundinnen und Kunden? Wie gehen wir damit um? Wir möchten Sicherheit geben. Viele Menschen hatten in dieser Phase grosse Angst. Also mussten wir überlegen, was wir produkt- und serviceseitig anbieten können, damit sich unsere Kunden sicherer fühlen. Das waren die beiden grossen Schritte: Mitarbeitende und Kunden schützen – und sicherstellen, dass der Betrieb reibungslos weiterläuft.
Technologisch waren wir zu Beginn nicht darauf vorbereitet, dass plötzlich alle im Homeoffice arbeiten. Einzelne taten das ab und zu, aber nicht 9’000 gleichzeitig. Die IT-Lasten, die Stabilität der Systeme – all das musste funktionieren. Und es hat sehr gut funktioniert. Es zeigte sich, dass das Geschäft auch über längere Zeit gut läuft, selbst wenn alle von zu Hause arbeiten.
Dann haben wir die Pandemie kommunikativ begleitet. Ich habe alle zwei Wochen ein Video aufgenommen und an alle Mitarbeitenden geschickt, um zu informieren, wie der Stand ist. Wenn man plötzlich nicht mehr in der Kantine oder beim Kaffee miteinander sprechen kann, muss man Kommunikation aktiv gestalten.
Es war definitiv eine sehr spannende Zeit. Mein Neffe hat damals studiert, mein Sohn war 15 oder 16 und in der Schule. Das war eine harte Zeit: plötzlich von allen Freunden abgeschnitten zu sein – gerade in diesem Alter sehr frustrierend. Wir alle haben in dieser Phase unsere Erfahrungen gemacht.
Während Ihrer Zeit als Vorstand für das Ressort Privatkunden haben Sie ein Geschäft verantwortet, das im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Individualisierung steht. Welche strategischen Entscheidungen mussten Sie damals treffen, um ein Massengeschäft profitabel, aber gleichzeitig kundennah zu gestalten?
Profitabel zu arbeiten ist im Grunde meine Kernkompetenz im Bereich Pricing. Insofern habe ich zunächst darauf geschaut, dass wir ein deutlich besseres Risikoverständnis entwickeln und sicherstellen, dass es keine Quersubventionierungen gibt. Wenn Risiko A eigentlich 90 kostet und Risiko B 110, wird häufig nicht sauber differenziert – am Ende zahlen beide 100 Euro. Das ist ungünstig, weil der eine Kunde damit 10 Euro Verlust und der andere 10 Euro Gewinn verursacht.
Deshalb ist es wichtig, genau zu verstehen, welche Produktionskosten dahinterstehen. Wie viel zahlen wir im Durchschnitt für einen bestimmten Kunden? Und das ist tatsächlich Individualisierung: Wir gestalten das gesamte Pricing individuell und versuchen sehr präzise zu ermitteln, welche durchschnittlichen Schäden ein bestimmter Kunde an einem bestimmten Ort, mit einem bestimmten Auto oder Haus üblicherweise verursacht – und wie hoch diese sind. So verstehen wir unsere tatsächlichen Produktionskosten und können darauf basierend den richtigen Preis am Point of Sale setzen.
Pricing ist immer ein Zusammenspiel zwischen dem «Ingenieur» – bei uns der Aktuar – und dem Vertrieb. Das Produkt muss verkaufbar sein. Der Kunde muss es nachvollziehen können – «der Köder muss dem Fisch schmecken», wie man so schön sagt. Diese Balance hinzubekommen ist zentral.
Versicherungen gehören zu den unattraktivsten Produkten überhaupt. Kaum jemand beschäftigt sich freiwillig stundenlang mit seiner Autoversicherung. Man möchte das Thema möglichst schnell erledigt haben. Anders als bei emotionalen Produkten gibt es bei Versicherungen wenig Begeisterung. Deshalb wissen Kundinnen und Kunden häufig nicht, was eigentlich versichert ist und was nicht.
Die unangenehme Überraschung kommt dann im Schadenfall, wenn die Versicherung mitteilen muss: «Das ist leider nicht gedeckt.» Genau dort liegt das Problem. Deshalb haben wir uns stark darauf konzentriert, unsere Produkte «überraschungsfrei» zu gestalten. Das bedeutet: keine negativen Überraschungen, klare Deckungen – und wo etwas nicht mitversichert ist, soll der Kunde das bewusst wissen. Das ist zwar noch keine Individualisierung, aber eine Art «Demokratisierung» von Versicherung.
Individualisierung zeigt sich zunehmend in der Kommunikation. Wir brauchen zielgruppenspezifische Ansprache – bis hin zu einer «n=1»-Kommunikation. Je mehr wir über einen Kunden wissen, desto besser können wir einschätzen, wie wir mit ihm kommunizieren sollten: sehr detailliert, wenn jemand viele Informationen schätzt, eher überblicksartig, wenn jemand weniger Tiefgang wünscht. Unser Ziel ist es, Kommunikation massgeschneidert zu gestalten. Produkte selbst können aus meiner Sicht nicht individualisiert werden – dafür gibt es schlicht kein echtes Kundeninteresse. Ausserdem würden die Kosten enorm steigen, weil sich viele Prozesse dann nicht mehr effizient automatisieren liessen.
Die Finanzbranche erlebt derzeit volatile Zeiten, sei dies durch die amerikanischen Zölle oder andere Ereignisse. Welche Auswirkungen haben globale Ereignisse solchen Ausmasses auf einen Versicherer wie die Allianz – bieten sie Ihnen als institutionellem Investor Vorteile, oder überwiegen Risiken durch höhere Schadenkosten und konjunkturelle Unsicherheiten?
Man kann natürlich sagen: Wenn Unsicherheit in der Bevölkerung herrscht, steigt der Wunsch nach Sicherheit. Das gilt sowohl im Bereich der Geschäftsversicherungen als auch bei der Wahl des Arbeitgebers. Langfristig profitiert ein Versicherer aber vor allem von einer guten Konjunktur.
Wenn die Menschen mehr Geld haben, investieren sie mehr in hochwertige Produkte, geben mehr für ihre Altersvorsorge aus. Unternehmen erzielen höhere Umsätze, versichern dadurch mehr und haben weniger Insolvenzen – was bedeutet, dass Risiken in unserem Portfolio wegfallen. Insofern hängen wir genauso an der wirtschaftlichen Entwicklung wie andere Unternehmen, wenn auch auf etwas indirektere Weise.
Ein produzierendes Unternehmen merkt die Konjunktur unmittelbar. Bei uns bleiben Unternehmen zunächst versichert, selbst wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten auftreten. Erst wenn tatsächlich eine Insolvenz droht oder der Insolvenzverwalter das Unternehmen abwickelt, entsteht auch für uns ein negativer Effekt. Das trifft uns jedoch nicht mit der gleichen Wucht wie Unternehmen in anderen Branchen.
Ansonsten sind wir derselben Dynamik ausgesetzt wie alle anderen – insbesondere technologischen Veränderungen. Themen wie AI haben bei uns einen enormen Hebel, weil unser Geschäft im Kern aus Informationen und Daten besteht. Wir produzieren nichts Physisches; alles basiert auf Daten. Daher können Large Language Models uns an vielen Stellen sehr gut unterstützen. Zölle betreffen uns eher mittelbar. Geopolitik hingegen beschäftigt mich durchaus – als Person, als Vater und natürlich auch als Arbeitgeber. Die Entwicklungen, die wir teilweise sehen, sowohl geopolitisch als auch gesellschaftlich hier bei uns, sind Themen, mit denen ich mich selbstverständlich auseinandersetze.
Die Zunahme extremer Wetterereignisse stellt Versicherer vor wachsende Risiken. Allein die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 hat enorme Schäden verursacht. Wie wappnet sich die Allianz gegen die steigenden Schäden durch den Klimawandel? Sehen Sie die Versicherungswirtschaft auch in der Pflicht, Prävention und Klimaanpassung zu fördern?
Ja, das greift natürlich auch unser Geschäftsmodell sehr stark an. Wenn wir mehr Schäden durch Naturgefahren haben, müssen wir mehr Schäden bezahlen, die Versicherungen werden teurer und sind irgendwann möglicherweise nicht mehr bezahlbar. Man sieht das in den USA: Wildfires in Kalifornien oder Hurricanes in der Karibik – dort gibt es inzwischen Regionen, die kaum noch versicherbar sind. Dorthin wollen wir selbstverständlich nicht.
Wir sehen eine Zunahme von Elementarschäden, vor allem solchen, die mit Wasser zu tun haben: Starkregen, Überschwemmungen, Hagel – all das nimmt zu, weil warme Luft mehr Feuchtigkeit speichern kann. Das Mittelmeer ist wärmer, dadurch steigt mehr Feuchtigkeit auf, und diese regnet sich zum Beispiel hinter den Alpen ab. Das wird zu einer weiteren Zunahme führen. Wir sehen zudem extreme Ereignisse wie in Valencia mit rund 200 Toten oder 18 Zentimeter grosse Hagelkörner, die mit 180 km/h aus den Wolken fallen.
Unsere Strategie folgt drei Säulen. Die erste – und wichtigste – ist CO₂-Vermeidung, damit die Temperatur nicht weiter ansteigt. Wir sind Teil der Asset Owner Alliance mit einem Anlagevolumen von etwa 9 Billionen Euro. Diese Gruppe hat sich vorgenommen, die Unternehmen, in die sie investiert, in Richtung Klimaneutralität zu bewegen. 9 Billionen Euro sind mehr als das Bruttoinlandsprodukt vieler Staaten – das verleiht uns echten Einfluss. Deshalb hört man uns zu, wenn wir sagen: «Entweder ihr bewegt euch oder wir investieren nicht mehr.» Wir reduzieren unseren Footprint jedes Jahr erheblich.
Auch im Tagesgeschäft setzen wir auf «Reparatur statt Ersatz». Wenn etwas beschädigt ist, reparieren wir es zuerst, bevor wir ein neues Teil einsetzen. Wir arbeiten zudem daran, verstärkt gebrauchte Ersatzteile zu nutzen. Wenn ein Auto durch eine Überschwemmung beschädigt wurde, kann man beispielsweise den Kotflügel trotzdem weiterverwenden. Solche Themen treiben wir entlang unserer Wertschöpfungskette voran.
Der zweite Schwerpunkt ist Prävention. Wir haben die 1,5-Grad-Marke bereits erreicht, das heisst: Das Klima wird sich weiter verändern. Deshalb müssen wir die Folgen des Klimawandels abmildern. Dazu gehören individuelle Massnahmen wie wasserfeste Kellerfenster oder Türen gegen Überschwemmungen. Wir setzen uns ausserdem dafür ein, dass Prävention auf Länderebene besser umgesetzt wird. Wenn bei einer Überschwemmung ein Deich nur noch einen Tag hält, bringt uns das nichts mehr. Also muss er gewartet oder neu gebaut werden.
Die dritte Säule betrifft innovative Lösungen. Wir unterstützen und versichern beispielsweise den Bau des grössten Windrads der Welt in der Lausitz – es ist das zweithöchste Gebäude in Deutschland. Auch das Thema gebrauchte Ersatzteile fällt darunter. Es gibt rund 30’000 verschiedene Automodelle, jedes mit einer Vielzahl von Ersatzteilen. Wenn nicht alle Marktteilnehmer in diesen Kreislauf einzahlen, entsteht kein funktionierender Markt für gebrauchte Ersatzteile.
In den letzten Jahren drängen vermehrt InsurTech-Startups in den Markt, und auch Tech-Giganten wie Amazon oder Google sondieren das Versicherungsgeschäft. Wie schätzen Sie diese neue Konkurrenz ein? Zwingen agile Neueinsteiger die etablierten Versicherer zu schnelleren Innovationszyklen? Will die Allianz auf Kooperation mit solchen Playern setzen oder eher auf eigene Innovationskraft, um im digitalen Zeitalter wettbewerbsfähig zu bleiben?
Das hängt ganz davon ab. Bislang ist es im InsurTech-Bereich tatsächlich noch nicht so, dass es Unternehmen gibt, die auf einmal anfangen zu dominieren. Wir sagen immer: Ein Start-up ist nur erfolgreich, wenn es «Beauty and Scale» hat. Die meisten haben «Beauty» – die Idee ist gut, das Produkt sieht gut aus – aber die Skalierung, also der Zugang zum Kunden, funktioniert in den wenigsten Fällen.
Man ist ohnehin überfrachtet mit immer neuen Apps, und Versicherungen sind nicht besonders «sexy» oder interaktionsintensiv. Es ist nicht unbedingt der Bereich, bei dem man zuerst denkt: «Ich brauche unbedingt eine Versicherungs-App.» Bei Banken ist das etwas anders, im Retail ohnehin.
Insofern gibt es noch keine dominanten Player, aber die Technologie entwickelt sich weiter. Gerade im Bereich GenAI wird noch deutlich mehr möglich sein, etwa durch AI-Agenten, die viele Aufgaben autonom lösen können. Als ich erstmals von GenAI gehört habe, haben wir deshalb sofort mit einem grossen Team diskutiert, wie wir GenAI in der gesamten Wertschöpfungskette nutzen können, damit wir im Sinne unserer Kundinnen und Kunden möglichst schnell und bestmöglich Services anbieten können. Das setzen wir bereits um, aber wir beobachten auch, was es am Markt gibt und wo Kooperationen sinnvoll sind.
Es gibt viele InsurTechs, die eher auf der Vertriebsebene oder im Bereich Vergleichsplattformen aktiv sind. Wir als Versicherer können dort die Kapazitäten bereitstellen und sind ein guter Partner. Wir nehmen dieses Geschäft gerne an, wenn es als Vertriebskanal funktioniert. Gleichzeitig bauen wir auch selbst und interagieren mit vielen externen Partnern. Alles, was wir mit Voice-Technologie machen, bauen wir nicht vollständig im eigenen Haus. Wir trainieren auch keine eigenen Modelle. Insofern prüfen wir bei vielen Themen, was die beste Lösung ist. Selbst zu bauen ist nicht immer der einfachste Weg – insbesondere, wenn es sich um versicherungsfremde Bereiche handelt. In unserem Kerngeschäft möchte ich schon, dass wir alles selbst beherrschen. In angrenzenden Bereichen schaue ich jedoch zuerst, wer sich darauf spezialisiert hat. Wenn solche Unternehmen viele Kunden haben, verfügen sie über mehr Kapazitäten, um immer besser zu werden. Dann suchen wir uns den besten Anbieter aus und docken ihn an.
Die Allianz ist ein Unternehmen mit über 100-jähriger Geschichte und einer grossen Belegschaft. Wie vermitteln Sie persönlich eine Vision, die alle Mitarbeiter mitträgt? Was sind zentrale Führungsprinzipien für Sie, um in einem Traditionsunternehmen dennoch Veränderungsbereitschaft und Kundenzentrierung zu verankern?
Ja, die Allianz ist tatsächlich 135 Jahre alt. Unsere Mitarbeitenden sind natürlich nicht so alt, aber viele sind bereits sehr lange bei uns. Wenn man mit ihnen spricht, hört man häufig von 20, 25 oder sogar 30 Jahren Unternehmenszugehörigkeit. Wir haben sogar jemanden, der sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Das zeigt, wie viel Expertise und Erfahrung im Unternehmen vorhanden ist.
Ein Kulturwandel ist jedoch in Teilen herausfordernd. Wenn man 20 Jahre lang gelernt hat, dass alles hierarchisch funktioniert und man einfach das umsetzt, was die Führungskraft vorgibt, ist es ein grosser Schritt, zu einer agileren Unternehmenskultur überzugehen. Zu einer Kultur mit flacheren Hierarchien, cross-funktionaler Zusammenarbeit und dem Anspruch, dass jede und jeder nicht nur das Recht hat, eine andere Meinung zu äussern, sondern sogar verpflichtet ist, dies zu tun, wenn man eine andere Sicht hat.
Wir haben unsere Strukturen entsprechend verändert – hin zu sogenannten Tribes, also cross-funktionalen Einheiten, die unsere Produkte und Prozesse neugestalten. Wir sind insgesamt sehr ähnlich gepolt und wollen oft als Erste vorangehen. Wir sind viel mit unseren Mitarbeitenden im Austausch. Dass sich alle duzen, ist dabei nur ein Symptom. Es macht das Unternehmen nicht automatisch besser, aber es schafft ein angenehmeres Umfeld und baut Hürden ab.
Am Ende geht es darum, wie wir zusammenarbeiten. Früher war vieles stark in Ressorts und Abteilungen getrennt. Auch das verbessern wir. Wir stellen das Thema Kundenbegeisterung ganz nach oben – vor Profitabilität oder Produktivität. Wir möchten, dass unsere Mitarbeitenden Lösungsfinder werden und nicht nur Abarbeiter. Wir sind keine Sachbearbeiter; wir wollen Kundenbegeisterer sein. Wenn ein Kunde anruft, wollen wir die individuell beste Lösung für ihn finden.
Dieses Thema verfolgen wir seit fünf Jahren, und man sieht deutliche Veränderungen. Sind wir schon dort, wo wir langfristig hinwollen? Sicher noch nicht. Aber wir arbeiten intensiv daran. Ich habe in meinem früheren Unternehmen eine sehr ausgeprägte positive Streitkultur erlebt – die Leidenschaft, immer das Beste zu wollen und jeden Tag besser zu werden. Genau dorthin möchte ich gerne kommen.
Welcher zentrale Faktor motiviert Sie persönlich jeden Tag in Ihrer Rolle als CEO der Allianz Versicherungs-AG?
Ja, der Umgang mit Menschen, die Leidenschaft. Und da sehe ich auch – ein Stück weit aus meinem analytischen Hintergrund heraus –, wie faszinierend es ist zu erleben, dass die Dinge, die man sich überlegt hat, auch wirklich funktionieren. Gerade wenn es komplex ist. Wenn man am Ende sagen kann: «Wow, das hat uns jetzt wirklich nach vorne gebracht. Das ist genau so aufgegangen, wie wir es geplant haben.» Das ist sehr beeindruckend.
Es gibt kaum etwas an meinem Job, das mir keinen Spass macht oder mich nicht motiviert. Es ist einer der spannendsten Jobs, die man sich vorstellen kann.
Wenn Sie den Blick fünf bis zehn Jahre in die Zukunft richten: Wie wird sich Ihrer Einschätzung nach die Versicherungsbranche entwickeln? Erwarten Sie grundlegende Veränderungen oder besondere Trends, auf die man bereits heute spekulieren könnte? Und welche Empfehlungen würden Sie Studierenden geben, die eine Karriere im Versicherungswesen erwägen?
Also, wie ich gerade eben gesagt habe: Als ich zum ersten Mal mitbekommen habe, was GenAI kann, war mir sofort klar, dass das eine echte Revolution, gerade in unserer Branche, ist. Wir erhalten viele Schriftstücke und Gutachten. Es lässt sich in kürzester Zeit gut Daten extrahieren und automatisieren.
Wir haben jetzt den ersten VoiceBot live geschaltet. Früher gab es das typische: «Wenn Sie das und das wollen, drücken Sie die 1.» Jetzt arbeitet er mit Intent-Erkennung auf Basis von GenAI. Ich sage einfach, was ich gerne machen möchte, und er antwortet: «Ich bringe Sie weiter» oder «Ich schicke Ihnen den Link zu unserer Online-Strecke, mit der das viel einfacher und schneller geht.»
Solche Entwicklungen sind beeindruckend. Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, wohin die Reise geht – basierend auf dem heutigen Stand der Technologie. Aber das ist eine sehr junge Technologie. Wo AI in fünf Jahren stehen wird, ist ein Blick in die Kristallkugel. Deshalb kann ich auch nicht sicher sagen, wo Versicherungen in fünf Jahren stehen.
Ich bin ehrlich gesagt sogar froh darüber, weil diese Dynamik und die notwendige Anpassungsfähigkeit – auch in Bezug auf Strukturen und Unternehmenskultur – uns immer wieder dazu bringt zu prüfen, ob etwas noch passt oder ob wir es neu denken müssen. Diese Dynamik hilft uns in der Allianz, gegenüber anderen Marktteilnehmern leistungsfähiger zu sein.
Studierenden kann ich nur raten: neugierig sein, offen bleiben für Neues und anpassungsfähig bleiben. In eurem Berufsleben, bis ihr irgendwann einmal in Rente geht – was wahrscheinlich später sein wird als heute – werdet ihr nicht nur einen einzigen Job haben. Ihr werdet viele unterschiedliche Aufgaben und Rollen kennenlernen, und sie werden sich stetig verändern.
Also: mutig sein, Dinge ausprobieren und Veränderungen als Chance sehen, nicht als Risiko. Genau das ist es nämlich – und es macht Freude, an dieser Entwicklung teilzuhaben. Das ist aus meiner Sicht das Wichtigste für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger.