Unternehmertum ist die wichtigste Triebfeder unserer Wirtschaft. Menschen, die es wagen, die Sicherheit eines Angestelltenjobs zu verlassen und ihre eigene Firma zu gründen, sind wahrscheinlich die grösste Quelle von Innovation, Wachstum und Kreativität.  Gründerinnen und Gründer brauchen neben Ideen, Marktkenntnissen und Führungsqualitäten vor allem zwei Dinge: Risikobereitschaft und Ehrgeiz. Und gerade darin unterschieden sich unternehmerische Projekte am meisten. Natürlich sind ein Friseur, der seinen eigenen Salon aufmacht, oder eine Designerin, die ihre eigene kleine Agentur startet, Unternehmer. Aber sind sie das in der gleichen Art und Weise wie die Softwareunternehmerin, die ein global führendes Produkt schaffen will, oder der Biotech-Professor, der eine möglicherweise weltverändernde Innovation aus seinem Labor als Uni-Spin-Off auf den Markt bringen möchte?  

KMUs reichen nicht für starkes Wachstum 

Kleinunternehmen sind selbstverständlich essenziell für jede Volkswirtschaft. Unternehmertum dieser Art sollte darum unbedingt gefördert werden. Die Unterschiede zwischen Ländern zeigen deutlich, welchen Unterschied die institutionellen Rahmenbedingungen machen können. Während in Deutschland die Zahl der Neugründungen seit Jahren rückläufig ist, schwingen sich die Gründungsstatistiken in der Schweiz von Rekord zu Rekord. Doch auch in der unternehmerischen Schweiz werden vorwiegend Klein- und Kleinstunternehmen gegründet. Laut dem Bundesamt für Statistik sind über die Hälfte der Neugründungen Einzelunternehmen, und 82% der neuen Firmen weisen zunächst nur einen Arbeitsplatz auf.  Während jede neue Firma für die Wirtschaft wünschenswert ist, reicht das als Wachstumsturbo nicht. Ein Blick in andere Weltregionen zeigt, wo Europa eine grosse Lücke aufweist: Von den global 10 wertvollsten börsennotierten Firmen der Welt sind 9 in den USA, eine in Taiwan zu Hause. Sieben sind im Informationstechnik-Sektor aktiv. Ebenfalls sieben wurden in ihrer frühen Wachstumsphase durch Venture Capital finanziert. Neun dieser Top-10-Firmen sind weniger als 50 Jahre alt.  Europa hat dem nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Unsere Ranglisten werden von traditionsreichen Konzernen angeführt, die zum Teil deutlich über hundert Jahre alt sind. Natürlich können auch etablierte Firmen innovativ sein, aber die Markterfolge sprechen für sich: Europa ist im globalen Ranking mit Traditionskonzernen wie Nestlé, LVMH oder Roche vertreten, alle um Rang 20 herum. Unser erfolgreichster Technologiekonzern ist der holländische Chip-Equipment-Hersteller ASML auf derzeit Platz 33. Auf Platz 102 findet sich mit SAP die erfolgreichste europäische Softwarefirma. Woran liegt dieser dramatische Rückstand? 

Was fehlt in Europa? 

Natürlich hat Europa mit einigen strukturellen Nachteilen zu kämpfen. Der immer noch fragmentierte Markt mit seinen zahlreichen Sprachen, unterschiedlichen Rechtssystemen und verschiedenen Geschäftskulturen macht das Skalieren eines aggressiv wachsenden Startups relativ schwierig. Zudem ist der Reflex der europäischen Politik, immer erst einmal alle neuen Technologien reglementieren zu wollen – derzeit gerade zu sehen bei künstlicher Intelligenz und Onlinediensten – wenig geeignet, neuen Technologiefirmen genug Freiraum zu gewähren.  Aber ein Schlüsselproblem liegt woanders. Ich hatte in meiner Karriere das Glück, mehrere Startups sowohl in Europa als auch in den USA mit aufbauen zu dürfen. Auf beiden Seiten des Atlantiks finden sich gute Ideen, innovative Technologien und talentierte Mitarbeitende. Man könnte sogar argumentieren, dass europäische Technologie im Durchschnitt innovativer und raffinierter ist – eine gute Illustration ist die Stärke der europäischen Forschung in Themen wie KI. Ein Unterschied ist aber äusserst ausgeprägt: Das Niveau von Ehrgeiz und Risikofreude. Und das reflektiert sich schon in jungen Jahren.  In meiner Erfahrung beschäftigen sich talentierte Studierende an der HSG oder ETH immer noch vor allem mit der Frage, bei welchem Grosskonzern oder welcher Beratungsfirma sie nach dem Studium anfangen wollen. Am MIT, in Harvard und in Stanford ist hingegen das primäre Thema, welche Startup-Idee man umsetzen will. Wenn man mit HSG-Studierenden spricht, sehen viele ihren Wunschjob «in der Strategieentwicklung» – was auch immer das heissen soll. Junge MIT-Ingenieure sind derweilen damit beschäftigt, ihre persönlichen Softwareprojekte vorwärtszutreiben, um daraus ein verkaufbares Produkt zu bauen. Weltweit dominante Firmen wie Microsoft, Google oder Meta sind aus genau dieser Mentalität entstanden. Es gibt immerhin Zeichen, dass sich die Dinge langsam bessern in Europa. Studentische Initiativen wie START Global, dass eine europaweit führende Unternehmertumskonferenz organisiert, erfahren einen grossen Aufschwung. Ein Startup zu gründen ist inzwischen nicht nur ein plausibler Karriereweg geworden, sondern gilt sogar als «cool».   

Gross zu denken fällt immer noch schwer 

Der Unterschied an Ambition setzt sich fort bei den Gründerteams von Startups. In meinem Beruf als Venture-Capitalist sehe ich jedes Jahr tausende von Pitchdecks und spreche mit hunderten von Startups. Auf der positiven Seite ist zu vermerken, dass einige junge europäische Firmen inzwischen sehr gesunden Ehrgeiz für globales Wachstum entwickeln. Ein grosser Prozentsatz denkt aber immer noch viel zu klein. Erst einmal soll der nationale Markt erobert werden, bevor man sich traut, überhaupt grösseren Ehrgeiz zu entfalten. Die Frage nach internationalen Expansionsplänen bleibt oft unbeantwortet, und die Krönung der unternehmerischen Ambition ist es, nach ein paar Jahren soliden Wachstums profitabel zu werden. Das angestrebte Resultat ist ein gesundes KMU, nicht das nächste Google.   Ganz anders amerikanische Startups: Da stellt sich gar nicht erst die Frage, ob man das global dominante Produkt in seiner Kategorie bauen will. Natürlich will man das. Und selbstverständlich braucht man dafür viel Kapital, vielleicht sogar hunderte von Millionen Dollar. Ist das risikoreich? Klar. Aber die Vorbilder für junge amerikanische Gründerinnen und Gründer sind Elon Musk, Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg, nicht der mittelständische KMU-Firmenbesitzer aus dem Bekanntenkreis. 

Put the Venture in Venture Capital 

Natürlich sind die Risikofinanzierer in Europa mitschuldig an dieser Lücke. Europäische Venture Capitalists sind im Durchschnitt deutlich konservativer als ihre amerikanischen Kollegen. Oft kümmern sie sich mehr um die Reduktion von Verlustpotential als um die maximal erzielbare Upside und fördern dementsprechend lieber risikoärmere Startups.  Ein Teil des Problems ist das Selbstverständnis der Branche: In Europa wird VC meist gesehen als Ableger der Finanzbranche. In den USA versteht sich die VC-Branche sehr viel eher als der Finanzarm der Technologiebranche, und VCs mit einem Background als Gründer oder Startup-Mitarbeiter sind der Normalfall. Grosse, risikoreiche Wetten mit hohem Ambitionslevel einzugehen fällt wahrscheinlich leichter, wenn VCs nicht nur finanzielle Aspekte verstehen, sondern auch Technologie und Märkte aus der Nähe kennen.   Hinzu kommt, dass die Geldgeber europäischer VC-Firmen oft sehr viel risikoscheuer sind als ihre amerikanischen Gegenstücke und viel weniger Kapital in VC stecken. Es ist beispielsweise immer noch sehr unüblich, dass europäische Pensionskassen in VC investieren. Das Resultat ist ein Mangel an Risikokapital, insbesondere für die späteren, kapitalintensiven Wachstumsphasen. Es gibt in Europa kaum VC-Firmen, die eine Finanzierungsrunde über hundert Millionen Euro anführen könnten. Die Lücke wird gefüllt durch internationales Kapital, insbesondere aus den USA. Die meisten amerikanischen Top-VC-Firmen haben inzwischen europäische Ableger gegründet und investieren fleissig in die besten Startups hierzulande.  Auch wenn diese Tatsache in der Politik oft zu einem Aufschrei führt, ist die Präsenz amerikanischer VCs in Europa sehr wünschenswert. Sie bringen nicht nur Kapital mit, sondern auch Expertise, die dem europäischen Ökosystem etwa drei Dekaden Erfahrung voraushat. Das «amerikanische Denken» in VC ist auch geeignet, den Ambitionslevel auf unserem Kontinent zu fördern. Internationale Top-VCs investieren nicht in Startups, um den Marktführer in Deutschland zu schaffen. Sie drängen ihre Startups sofort in Richtung globale Dominanz. Erste Resultate sind zu sehen: Bis 2016 produzierte Europa gerade mal 50 «Unicorns» – Startups, die eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Euro erreicht haben. Im Jahr 2021 allein waren es fast 100 neue Startups, die dieses Erfolgsniveau schafften. Freilich war das auch eine Funktion eines überhitzten Marktes, aber es ist auf allen Ebenen zu beobachten, dass das europäische Startup-Ökosystem sehr viel ehrgeiziger und erfolgreicher wird. 

Volle Fahrt voraus auch für Europa 

Es gibt also viele Gründe für Optimismus. Europa hat starke Grundlagen für mehr und vor allem für ehrgeizigeres Unternehmertum. Dank der schnell voranschreitenden Digitalisierung ist es für europäische Firmen sehr viel einfacher geworden, schon früh global zu expandieren. Die zunehmend häufigeren europäischen Erfolgsstories sind auch geeignet, bessere Vorbilder zu schaffen, an denen sich junge unternehmerische Talente orientieren können.  Erfolge im Unternehmertum passieren nicht über Nacht. Wir werden Geduld brauchen, bis wir das nächste europäische Technologiestartup sehen, das eine global führende Rolle spielt, aber die nötigen Zutaten sind vorhanden.  

Previous articleShareholder activism – Heutzutage wichtiger als je zuvor?
Next articleÜber die Schweizer Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich und die Aussichten des Rohstoff Holz’
Andreas Göldi ist ein Serienunternehmer und Startup-Investor mit über 25 Jahren Erfahrung. Er gründete seine erste Firma 1995 noch während seines Studiums an der Universität St. Gallen. Das Unternehmen, die Namics AG (heute Merkle) entwickelte sich zum marktführenden Internetdienstleister in der Schweiz und beschäftigt heute ca. 600 Mitarbeiter. 2006 zog Andreas Göldi in die USA für ein Masterstudium am MIT und lebte insgesamt 12 Jahre in Boston. Während dieser Zeit baute er zwei weitere Venture-Capital-finanzierte Softwareunternehmen als Chief Technology Officer mit auf. 2018 zog Göldi zurück in die Schweiz und wurde Partner bei der Venture-Capital-Firma btov Partners. Dort investiert er primär in frühphasige Startups in den Bereichen künstliche Intelligenz, Business-Software und Cloud-Infrastruktur.