Die Perspektive der nächsten Generation unternehmerischer Entscheidungsträger würde die Debatte über die drängenden Herausforderungen unserer Zeit bereichern. Mein Appell an die Führungskräfte von morgen: Europa braucht euch! Überlasst es nicht den Alten, über die Lebens- und Arbeitsrealitäten von morgen zu entscheiden.  

Seit einigen Monaten lässt sich beobachten, wie der Ton der gesellschaftlichen Debatte sich verschärft und in eine beunruhigende Richtung verschiebt. Die zahlreichen globalen Krisenherde vermischen sich zu einem Cocktail, der unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung bedroht, während sich immer mehr Menschen nicht nur von den etablierten Parteien, sondern von unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung an sich abzuwenden und radikal-populistischen Kräften zuzuwenden scheinen. Der AfD-Parteitag in Magdeburg vor wenigen Monaten gab einen bitteren Vorgeschmack darauf, was droht, wenn wir an diesem Scheideweg nicht den richtigen Weg einschlagen: Die ersten Plätze der Kandidatenliste für die nächste Europawahl haben die Rechtsnationalen ausnahmslos mit Politikern besetzt, die Europa zu einer „Festung“ ausbauen wollen, vor einem „Bevölkerungsaustausch“ warnen und die Europäische Union am liebsten ganz abschaffen würden. Blicken wir in unsere zunehmend von Protektionismus geprägte Welt, so wird noch deutlicher, dass unsere hart erkämpften Werte keine Selbstverständlichkeit sind. Von Italien über Frankreich bis nach Schweden – in ganz Europa erstarken rechtsnationalistische Kräfte. Blicken wir nach Polen oder Ungarn, sehen wir, was jahrelange rechtsnationale Regierungsverantwortung nicht nur für jeden persönlich, sondern auch für die Wirtschaft bedeutet. Kein Betrieb, kein noch so großes Unternehmen bleibt von Gleichschaltungsversuchen verschont. Viele junge Menschen haben die Hoffnung auf Besserung aufgegeben und kehren ihrer Heimat den Rücken. Hinzu kommt, dass das staatskapitalistische China seine wirtschaftliche Vormachtstellung immer erfolgreicher ausbaut und in den tief gespaltenen USA Donald Trump bei einer Wiederwahl mit seiner Gorilla-Politik dort weitermachen könnte, wo er 2021 aufgehört hat. Ganz zu schweigen vom russischen Regime, das selbst vor einem imperialistischen Angriffskrieg nicht zurückschreckt. 

All das zeigt, wie wichtig jetzt mehr denn je die starke Stimme einer jungen Generation von Europäern mit neuen Ideen und Perspektiven ist – von den Universitäten über die Wirtschaft bis in die Parlamente. Ihr wisst besser als jede Generation vor euch, dass Nationalismus und Protektionismus mit einer global vernetzten Wirtschaftsordnung und unserer Sozialen Marktwirtschaft unvereinbar sind und dass die europäische Idee, Vielfalt, Freizügigkeit und eine starke Demokratie nicht nur Garanten für ein menschenwürdiges Leben in Freiheit sind, sondern auch die Basis für Wachstum und damit für wirtschaftliche Prosperität und den Wohlstand von morgen. 

Ich kann die Leserinnen und Leser dieses Beitrags daher nur ermutigen: Redet mit und mischt euch ein. Tragt eure Werte und eure Vielseitigkeit, eure Visionen, euren Innovationsgeist und euer Verantwortungsbewusstsein aus den Seminarräumen in die Städte, Unternehmen und Medien, wie es auch die Herausgeber und Redakteure dieses Magazins in beeindruckender Weise vormachen.  

Ich kann aus meiner eigenen Biografie heraus bezeugen, dass die Möglichkeiten des Engagements für eine lebenswerte Zukunft genauso vielfältig wie die zahllosen Lösungsansätze sind: Neben meiner Karriere engagiere ich mich seit meinem sechzehnten Lebensjahr parteipolitisch für meine sozialliberalen Überzeugungen – im Übrigen war ich dabei nie Mandatsträger. Seit 2011 habe ich drei Bücher veröffentlicht und engagiere mich als nebenher als Mitgründer und Förderer von Initiativen und gemeinnützigen Organisationen. Seit 2020 auch mit der Harald Christ Stiftung für Demokratie und Vielfalt, die sich für die Stärkung unserer Demokratie sowie Diversität einsetzt, während die Christ&Company ihr Beteiligungsgeschäft ausbaut, mit einem Fokus auf europäische Start-ups, die an Lösungen für Herausforderungen wie den digitalen Wandel und die Energiewende arbeiten.  

Update für die Soziale Marktwirtschaft: Warum jetzt die Stunde der Jungen geschlagen hat 

Ich bin mit Blick auf die derzeitige, mehr als angespannte wirtschaftliche Situation davon überzeugt, dass es nicht weniger als der Erarbeitung eines echten und umfassenden Zukunftskonzeptes, einer Sozialen Marktwirtschaft 2.0, bedarf, um Wohlstand und sozialen Frieden zu sichern und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.   

Entscheidend dafür ist nicht nur die Beteiligung der Wirtschaft, sondern auch, dass junge Stimmen eine solche optimistische Zukunftserzählung mitentwickeln. Als Augenöffner für zukünftige Lebens- und Arbeitsrealitäten und diejenigen, die den Abgesängen antidemokratischer Akteure die glaubwürdigste Zukunftsvision entgegensetzen können. Denn während Herausforderungen wie die Jahrhundertaufgabe Energiewende das gesellschaftliche Klima maßgeblich belasten und Menschen durch Fake News und Angstmacherei in die Fänge von Populisten treiben, sind es die innovativen Ideen und disruptiven Technologien junger Gründerinnen und Gründer, Tüftler und Spezialistinnen und ihr frischer Blick auf alte und neue Probleme, die der Schlüssel zur Lösung sind – von Wasserstoff bis KI, von E-Mobilität bis zu Konzepten für die besten Universitäten der Welt.  

Die politische Neutralität gibt es spätestens seit der Zeitenwende nicht mehr  

In meiner langjährigen beruflichen Laufbahn habe ich gelernt, dass es gerade als Unternehmer keine politische Neutralität geben kann. Man könnte sagen: Haltung zeigen ist alternativlos. Warum das so ist, hat der russische Überfall auf die Ukraine besonders schmerzlich gezeigt. Lange Zeit galt in großen Teilen der Wirtschaft die ungeschriebene Regel, sich bei der langfristigen Auslegung des Geschäftsmodells nicht übermäßig von „kurzfristigen Turbulenzen“ leiten zu lassen und stattdessen die Grenzen des eigenen Handelns allein aus der Konformität mit der politisch-rechtlichen „licence to operate“ abzuleiten. Dass dies ein fataler Trugschluss war, offenbarte sich im Februar 2022. Viel zu eng waren die Verflechtungen mit russischen Unternehmen, viel zu groß die Abhängigkeiten vom nationalistisch-autoritären Regime in Moskau – etwa im Energiesektor. Die Folge: Die Wirtschaftskrise traf deutsche Unternehmen besonders hart, und Sanktionen gegen die Kriegstreiber und -profiteure konnten nur scheibchenweise verhängt werden, weil die Verbindungen nach Russland nicht schnell genug gekappt werden konnten. 

Ich hoffe sehr, dass nachfolgende Generationen in den Chefetagen sich darüber stärker bewusst sind, dass man nicht auf jeder Hochzeit tanzen kann – und einem die Verantwortung, die eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten regelmäßig daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht letztlich die vielfältigen Feinde unserer Demokratie und sozialen Marktwirtschaft stärken, niemand abnehmen wird.   

Unternehmen sind Orte der politischen Willensbildung  

Abschließend sei angemerkt, dass es auch im Hinblick auf das eigene berufliche Umfeld weniger eine Option als eine Notwendigkeit ist, seine Überzeugungen auszudrücken. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwarten von ihren Führungskräften, egal ob jung oder alt, sich am Arbeitsplatz gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Intoleranz einzusetzen und sich ein Umfeld zu garantieren, in der sich jeder und jede wohlfühlt. Offenheit, Diversität und eine gesunde Diskussionskultur sind die Voraussetzung dafür. Unternehmen sind nicht zuletzt immer auch Orte der politischen Willensbildung: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbringen hier die meiste Zeit, haben hier die meisten sozialen Kontakte und identifizieren sich im besten Fall mit ihrem Arbeitgeber und seinem Leitbild und seinen Werten. Als Führungskraft prägt man seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daher im besten Sinne immer auch politisch und hat die wertvolle Möglichkeit, mit bestem Beispiel vorangehend andere zu ermutigen, sich überzeugt für ein Herzensanliegen zu engagieren. Diese Erkenntnis ist heute wichtiger denn je – und man sollte sich dessen von Beginn der eigenen Karriere an bewusst sein. 

Denn die wichtigste Ressource, nicht nur für Unternehmen, sondern für Europa in Gänze, seid ihr: unsere jungen Talente. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass ihr euch als Unternehmens- und Gesellschaftslenker von morgen schon heute in die Debatte einschaltet und eure Standpunkte klarmacht – der Ausgang jetziger Debatten wird entscheidend sein für die Grundlage des Wohlstandes eurer Generation und die Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen.  

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Harald Christ wurde 1972 in Worms geboren. Nach seinerAusbildung zum Industriekaufmann war er Vorstand und Gesellschafter in einer Reihe von Unternehmen, Banken und Versicherungen. Heute führt er die Investment- und Beratungsgruppe Christ & Company in Berlin. Seit 1988 SPD-Mitglied und 2009 im Schattenkabinett von Frank-Walter Steinmeier als Wirtschaftsminister, trat Christ 2019 aus der SPD aus und wenig später in die FDP ein. Von 2020 bis 2022 war er Bundesschatzmeister der FDP. Er ist Mitglied in Aufsichtsräten, Beiräten, Hochschuldozent und Stifter der Harald Christ Stiftung für Demokratie und Vielfalt.