Dieses Interview wurde am 13. November 2023 geführt.

Herr Prosor, wir möchten gerne unser tiefstes Bedauern für die schrecklichen Geschehnisse in Israel ausdrücken. Waren Sie nach den Anschlägen vom 7. Oktober bereits in Israel zugegen? 

Ja, ich war seitdem bereits drei Mal in Israel und habe die Auswirkungen der Massaker mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich war in einem Kibbuz in der Region in der Nähe des Gazastreifens. Die Geschehnisse mit eigenen Augen zu sehen ist schrecklich und es wird klar, dass diese Ereignisse eine Zäsur darstellen. Die Brutalität dieser Tat beeinflusst ganz Israel. Da Israel nicht sehr gross ist, ist jeder betroffen – entweder die Familie oder Angehörige von Freunden. Das Ausmass hat mich sehr getroffen. Leid wurde einfachen Zivilisten angetan. Eine befreundete Familie von mir mit einem kleinen Kind wurde von den Hamas getötet. Die Hamas-Terroristen machen bei ihren Opfern keinen Unterschied. Barbarisch ist für mich zu mild für das Ausmass dieser Taten. 

Inwiefern hat der Anschlag Ihren Alltag als israelischer Botschafter in Deutschland verändert? 

Hoffentlich hat der Anschlag nicht nur uns, sondern auch die Deutschen und Europäer verändert, weil alle demokratischen Länder davon betroffen sind. Es weist vor allem auf die Tatsache hin, dass man diese feindselige Ideologie jahrelang verharmlost hat. Es wurde zugelassen, dass in Demonstrationen durch Aussagen wie „From the river to the sea“ die Auslöschung des israelischen Volkes gefordert wurde. Die Anhänger dieser Bewegung gehen nicht nur für die Auslöschung des israelischen Staates auf die Strasse, sondern sie beteuern, dass sie jede Jüdin und jeden Juden umbringen wollen. Dieses Kettengerassel wurde viel zu lange in Europa zugelassen und die Massaker zeigen, dass sie ihre Worte in Taten umsetzen.  Dabei ist zu bedenken, dass wir Juden und Israelis von solchen Taten als Erste betroffen sind. Wenn demokratische Staaten diese Ideologie in Europa zulassen, dann werden sie morgen weinen. 

Was ist Ihre Meinung zur Enthaltung Deutschlands bei der UN-Resolution vom 30. Oktober bezüglich des Israel-Gaza Konflikts, in welcher der Terror der Hamas nicht klar verurteilt wird?

Jahrelang schon lässt das deutsche Abstimmungsverhalten bei der UN viel zu wünschen übrig. Ich bedauere, dass es schon lange Dämonisierungen und Delegitimationen gegenüber dem Staat Israel in UN-Gremien gibt. Diese kleinen, aber wiederkehrenden Attacken höhlen die Souveränität Israels auf Dauer aus. Es ist doch unglaublich, dass in der jüngsten UN-Resolution die Terrororganisation Hamas nicht einmal als Verantwortliche für das von ihnen verrichtete Massaker benannt wird. Genau deshalb hätte ich eine stärkere Kritik von Deutschland gefordert. Zudem enthält die Resolution keine Forderung zur Freilassung der Geiseln und es wurde nicht erwähnt, dass Israel das Recht und die Pflicht hat, sich selbst zu verteidigen. Diese drei Aspekte wurden nicht erwähnt, daher empfinde ich die Enthaltung Deutschlands als besonders enttäuschend. Dies widerspricht zudem der sehr wichtigen Unterstützung Israels durch Deutschland, allen voran durch Bundeskanzler Olaf Scholz. Ich hoffe, dass in Zukunft auf Worte mehr Taten folgen.

Der ideologische Kampf zwischen Unterstützern der Palästinenser einerseits und Israel andererseits wird mittlerweile auch in Deutschland öffentlich ausgetragen. Wie beurteilen Sie die Rolle der Islamverbände in Deutschland mit Hinblick auf diesen Konflikt? 

Die Rolle der Islamverbände ist beschämend. Diejenigen, die solche Massaker nicht verurteilen, sind nicht unsere Freunde, nicht die Freunde der Demokratie und vor allem keine Ansprechpartner in der Zukunft. Die abnormalen Zustände, die so weit reichen, dass Synagogen und andere jüdische Einrichtungen zurzeit in Deutschland geschützt werden müssen, werden hier als Normalität angesehen. Für mich ist das nicht normal und das muss auch allen bewusst sein. Es kann nicht sein, dass auf deutschen Strassen das Existenzrecht des Staates Israel negiert wird, palästinische Flaggen auf deutschen Denkmälern gehisst werden, und in Essen die Einführung des Kalifats ausgerufen wird. Dass Molotov-Cocktails im Jahr 2023 auf Synagogen in Deutschland geworfen werden und Davidsterne auf Häuser gesprüht werden, in denen Juden wohnen, sprengt die Grenzen der freien Meinungsäußerung. Wenn dagegen heute nicht vorgegangen wird, dann wird Deutschland morgen weinen. 

Also muss Ihrer Meinung nach mehr dagegen getan werden? 

Gegen israelfeindliche und antisemitische Ausschreitungen und Institutionen müssen die deutschen Behörden schneller vorgehen. Das von Bundesinnenministerin Nancy Faeser ausgesprochene Verbot von Samidoun und der Hamas ist ein positives Beispiel hierfür. Es ist auch gut, dass mittlerweile die Finanzierung von palästinensischen Einrichtungen hinterfragt wird. Es kann nicht sein, dass UNRWA-Schulen unterstützt werden, die gegen Israel hetzen und in deren Schulbüchern die palästinensische Terroristin Dalal Al-Mughrabi als Heldin gefeiert wird. Sie war an einem Terroranschlag beteiligt, bei dem 38 Israelis, davon 13 Kinder, getötet wurden.  Es darf nicht sein, dass palästinensische Kinder zu solchen Persönlichkeiten aufschauen. Deshalb muss man genau kontrollieren, wohin Entwicklungshilfegelder fliessen. (Anmerkung: Nach dem 7. Oktober hat die Bundesregierung ihr gesamtes Engagement für die palästinensischen Gebiete auf den Prüfstand gestellt. Als erstes Teilergebnis hat Deutschland nach Gesprächen mit Israel und anderen Partnern im November Gelder an Hilfsorganisationen freigegeben und teilweise aufgestockt.)  

Wie würden Sie auf internationale Befürworter eines sofortigen Waffenstillstands reagieren? 

Erstmal möchte ich Sie daran erinnern, dass es einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas gab, und dieser ohne israelische Provokation von der Hamas gebrochen wurde. Ein Waffenstillstand wird nur zustande kommen, wenn wir die Geiseln nach Hause gebracht haben. Hierzu möchte ich auch anmerken, dass wir gegenwärtig nichts über den gesundheitlichen Zustand und die Versorgung der Geiseln, unter denen sich viele Babies und Kinder befinden, wissen. Dazu kommt, dass die Hamas ihre eigene Bevölkerung als Schutzschild missbraucht. 

Wie genau stehen Sie zu Stimmen innerhalb Israels, die den Einmarsch der Armee kritisieren?

Israel ist ein demokratischer Staat und dementsprechend herrscht bei uns auch das Recht zur freien Meinungsäusserung, was zu hitzigen Debatten führen kann. Natürlich gibt es auch Personen, die die Regierung kritisieren. Dennoch ist klar zu spüren, dass sich die Bevölkerung – trotz der hitzigen Proteste über die Justizreform während den vergangenen Monaten- einig ist, dass die Führung und die Infrastruktur der Hamas unbedingt zerstört werden müssen, damit der Staat Israel weiterleben kann. 

Welche weiteren Paradigmen haben sich seit dem Anschlag verändert? 

Zunächst ist es wichtig, sich an das Grundversprechen des Staates Israel zu erinnern – auch in Deutschland. Der Staat Israel wurde 1948 gegründet, um Massaker an Juden zu verhindern und ihnen eine Heimat zu geben, in der sie sicher sind. Der 7. Oktober hat uns gezeigt, dass wir dieses Grundversprechen gegenwärtig nicht erfüllen können. Das Verbrennen von Jüdinnen und Juden im eigenen Haus, die Hinrichtung von Frauen und Kindern und die Enthauptung von Babies sind Verbrechen, die uns die fehlende Menschlichkeit der Barbaren aus dem Gazastreifen vor Augen geführt haben und uns daran erinnert haben, dass wir diese Terrororganisation auslöschen müssen, wenn wir in dieser Region etwas Neues aufbauen wollen.Nun versuchen sie, ihre Ideologie auch nach Europa zu tragen. In sogenannten Protestmärschen haben wir gesehen, dass diese Ideologie hier angekommen ist. Ich hoffe inständig, dass Israel und Europa sich dem gemeinsam mit aller Entschiedenheit entgegenstellen. 

Überhaupt verstehe ich die aktuelle Kritik an Israel nicht. Welches Land würde sich nach einem Massaker eines solchen Ausmasses nicht selbst verteidigen? Darüber hinaus haben wir in der Vergangenheit versucht, den Palästinensern eine Perspektive zu geben, zum Beispiel durch die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen. Dieser eingeschlagene Weg des Friedens wurde jedoch auch von der palästinensischen Zivilbevölkerung untergraben.  Zum Beispiel haben einige der palästinensischen Arbeiter in israelischen Kibbuzim  in der Nähe des Gazastreifens Zeichnungen mit Häusergrundrissen und Positionen von Sicherheitsräumen, sowie detaillierte Informationen über ganze Familien und Gemeinden an die Hamas weitergegeben. Dadurch wussten die Hamas-Terroristen genau, wo sie hingehen müssen, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Diese Verflechtung macht eine klare Trennung zwischen der Hamas und der Zivilbevölkerung unmöglich. Die Hamas wurde 2006 von der Zivilbevölkerung gewählt und viele Palästinenser sind weiterhin ideologische Unterstützer der Terrororganisation. Dennoch handelt die Hamas entgegen dem eigentlichen Interesse der Zivilbevölkerung, indem diese beispielsweise beschossen wird, sodass sie nicht in den Süden des Gazastreifens fliehen kann. Ferner gefährdet die Hamas durch die Nutzung von Krankenhäusern als Kommandozentralen, die Positionierung von Raketen in Schulen, oder durch das Beschlagnahmen von humanitären Lieferungen die eigene Zivilbevölkerung

Mit welchen weiterführenden Absichten operiert Israel im Gazastreifen? Anders gefragt: Ist dieser Krieg gegen die Hamas überhaupt zu gewinnen? 

Die Ideologie wird in den Köpfen der Einwohner des Gazastreifens fest verankert bleiben. Genau deshalb wollen wir die Infrastruktur der Hamas zerstören, um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, ihre mörderischen Ideen in die Tat umzusetzen. Wir wollen die Führung und die Strukturen der Hamas vollständig beseitigen. Während wir hier sprechen, werden Raketen von der Hamas auf Israel abgeschossen. Deshalb haben wir keine andere Wahl, als die Hamas zu beseitigen, um in Freiheit und Sicherheit leben zu können.

Wie beurteilen Sie die militärische Situation im Gazastreifen?

Erstmal möchte ich klarstellen, dass ich mich nicht als Militärexperte sehe. Dennoch glaube ich, dass unsere Armee langsamer vorgeht, als sie es könnte, sodass wir sicherstellen, dass ausschliesslich die Hamas und nicht die Zivilbevölkerung getroffen wird. Darüber hinaus möchte ich betonen, dass man der Berichterstattung der Hamas nicht trauen kann. Die Hamas ist keine Quelle. Die Hamas lügt und verdreht die Wahrheit nach Belieben.

Was tun Sie konkret, um in Deutschland gegen antisemitische Aktionen vorzugehen? 

Als Botschafter des Staates Israel in Deutschland ist das nicht meine Aufgabe, sondern die der deutschen Behörden. Aber natürlich besorgt mich der Antisemitismus- ganz gleich ob er aus dem linken oder rechten Parteienspektum oder aus der muslimischen Community kommt. Wir alle sollten besorgt sein! Ich vertraue darauf, dass die zuständigen Stellen und die Strafverfolgungsbehörden wachsam sind. Auf den Strassen Berlins sind sehr viele angebliche pro-palästinensische Demonstranten zu sehen. In Wahrheit sind es aber anti-jüdische, anti-israelische und anti-demokratische Demonstrationen. Damit sich die Aufhetzungen nicht weiter fortsetzen, muss gehandelt werden. Deshalb habe ich mich vor sechs Monaten mit dem Bürgermeister Neuköllns getroffen, um zu besprechen, wie das am besten geschehen kann. 

Befürchten Sie eine Ausweitung des Konfliktes? 

Ich denke, dass Israel dem amerikanischen Präsidenten danken muss, dass Israel bis jetzt noch kein Krieg an einer zweiten Front, namentlich gegen die Hisbollah, führen muss. Dennoch sieht man, wie die Hisbollah Israel tagtäglich mit Raketen beschiesst um Zivilisten zu töten. Es ist zu erkennen, dass die Hisbollah versucht, Israel zu provozieren, um damit einen Krieg mit dem Libanon vom Zaun zu brechen. Die Schuld für einen Krieg mit dem Libanon läge einzig und allein bei der Hisbollah.

Sie haben Joe Bidens Unterstützung für Israel angesprochen. Wie stehen Sie generell zu Unterstützung westlicher Staaten? 

Wir schätzen natürlich jedwede Unterstützung.  Aber zu unserem Selbstverständnis gehört, dass Israel in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. 

Auch im Ukrainekonflikt ist zu erkennen, wie wichtig es ist, auch den Informationskrieg, insbesondere im Internet, zu gewinnen. Inwiefern versucht Israel, faktenbasiert online für Klarheit zu sorgen? 

In dieser Hinsicht müssen wir deutlich mehr tun. Momentan versuchen wir im Netz bereits anhand von Beweisen darzulegen, dass Krankenhäuser von der Hamas als Militärstützpunkte genutzt werden, und dass sich Terrortunnel unterhalb von Moscheen und Schulen befinden. Als demokratischer Staat müssen wir allerdings zuerst die Informationen verifizieren und prüfen, bevor wir sie veröffentlichen. Das dauert selbstredend länger als die Verbreitung von Fake News, wie es die Hamas macht. Es ist schwierig, einen digitalen und faktenbasierten Informationskrieg gegen eine skrupellose Terrororganisation zu führen. Deshalb denke ich, dass wir auf dieser Ebene noch sehr viel tun müssen. 

Eine abschliessende Frage: Was würden Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben, damit diese dabei helfen können, die Ausbreitung von Hass und Hetze zu unterbinden?

Jeder sollte eigenständig in der Lage sein,  selbstständig zu denken und Quellen von Nachrichten zu hinterfragen. Überhaupt würde ich mir wünschen, dass junge Leute skeptischer sind und das, was sie lesen, sehen und hören kritisch einordnen. 

Previous articleTrigema Nachfolge – Interview mit Bonita und Wolfgang Grupp
Next articleVom Hobby zum Unternehmen: Philipp Westermeyer über OMR und die Zukunft der Digitalbranche
Bevor Botschafter Ron Prosor im August 2022 seinen Posten als israelischer Botschafter in Berlin angetreten ist, war er Leiter des Abba-Eban-Instituts für internationale Diplomatie am Interdisziplinären Zentrum Herzliya (IDC, heute: Reichman University). Davor war Botschafter Prosor von 2011 bis 2015 der 16. ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen. In den drei Jahrzehnten seiner Tätigkeit für das Außenministerium hat sich Prosor einen internationalen Ruf als einer der profiliertesten Diplomaten Israels erworben. Zwischen 2004 und 2007 war Prosor Generaldirektor des Außenministeriums und beaufsichtigte Israels Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005. Anschließend war Herr Prosor vier Jahre lang Israels Botschafter im Vereinigten Königreich. Als Offizier der Artilleriedivision der IDF erlangte er den Rang eines Majors und absolvierte den Kurs für Bataillonskommandeure der IDF. Er hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaften von der Hebräischen Universität Jerusalem, den er mit Auszeichnung absolvierte.