Sie waren in Ihrer ganzen Karrierelaufbahn oftmals die erste Frau in einer Funktion. Was denken Sie zeichnet Sie als Vorreiterin aus?
Diese Funktionen habe ich nie angestrebt, weder, als ich jung war noch in späterer Zeit. Ich wollte Richterin werden und selbstbestimmt leben. Das war in der damaligen Zeit nicht selbstverständlich. Meine erste leitende Funktion ergab sich bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien; meine Ernennung als erste Frau in die höchste staatsanwaltschaftliche Behörde, die Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof mit damals 14 Generalanwälten, erfolgte 1990. Es wurde allmählich anerkannt, dass Frauen in einer solchen Behörde Karriere machen können. Ich habe mich in keine Funktion meines beruflichen Lebens gedrängt, sondern hatte das Glück, von anderen angesprochen zu werden. Obwohl ich nicht immer in die Materie eingearbeitet war, habe ich stets Chancen wahrnehmen wollen und nie „Nein“ zu neuen Herausforderungen gesagt. Damals waren leitende Funktionen üblicherweise noch älteren Kollegen vorbehalten, eine Kollegin zu haben, war daher neu und ungewohnt. Ich will aber niemanden einen Vorwurf machen, man hat Frauen als Führungspersönlichkeiten einfach noch nicht gekannt. Anfangs waren die männlichen Kollegen mir gegenüber teils auch durchaus kritisch eingestellt, nach einiger Zeit haben sie ihre Haltung gegenüber Frauen in Führungsverantwortung aber geändert. Das war auch nach meiner Ernennung zur Vizepräsidentin des österreichischen Verfassungsgerichtshofes so. Inzwischen hat sich diesbezüglich in der österreichischen Justiz und im Land insgesamt Vieles getan. Selbst in höheren Gremien der Justiz sind heute teilweise sogar mehr Frauen als Männer vertreten.
Nehmen Sie Ihre Vorreiterrolle als Berufung wahr oder hat sich dies einfach im Laufe ihrer Karriere ergeben?
Ich war gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Glück gehört im Leben immer dazu, allerdings habe ich es mir in keiner der erreichten Funktionen leicht gemacht. Ich habe stets versucht, mein Bestes zu geben und mich voll eingebracht – ich wollte nicht, dass meine Position darauf eingeschränkt wird, dass ich eine Frau bin.
Wie fühlt sich diese Rolle als Pionierin an?
Es ist für mich durchaus erfreulich, dass mich bis heute sowohl Frauen als auch Männer aller Altersgruppen auf der Straße ansprechen und sich, obwohl meine aktive Karriere schon zurückliegt, für meinen Einsatz bedanken. Ich bin nicht in sozialen Medien, daher weiß ich nicht, was sich in diesen über mich findet, aber im direkten Kontakt mit Menschen erhalte ich sehr positive Rückmeldungen. Das freut mich auch für die Sache der Frauen.
In Ihrer Zeit als Bundeskanzlerin kamen Sie in Kontakt mit anderen Frauen in hohen Ämtern wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und vielen anderen. Sehen Sie Gemeinsamkeiten bei starken weiblichen Persönlichkeiten?
Das kann ich so nicht sagen. Ich weiß nicht, ob es Eigenschaften gibt, die nur bei Frauen in Führungsverantwortung hervorstechen. Man kann es nicht verallgemeinern, aber ich glaube, dass Frauen tendenziell teamfähiger sind und weniger ihre Person in den Vordergrund stellen als die Sache, für die sie arbeiten und kämpfen. Bei manchen Herren hatte ich gelegentlich den Eindruck, dass sie mehr ihre eigene Person in den Fokus stellen wollen als die Sache selbst. Beim ersten Brüsseler Gipfel, an dem ich teilgenommen habe, hat mich Angela Merkel sofort zu einem 4-Augen Gespräch eingeladen. Es war ein äußerst wertschätzender Austausch und ich halte Frau Merkel für eine besonders beeindruckende Persönlichkeit. Ich habe sie in verschiedenen Ratssitzungen in Brüssel näher kennenlernen dürfen. Diese Sitzungen dauern mitunter überaus lange. Meine längste Sitzung zog sich 19 Stunden hin; Angela Merkel war in der Lage, auch noch um 3:00 Uhr früh glasklare Gedanken zu fassen und in Kürze auf den Punkt zu bringen, was ich nicht von allen männlichen Kollegen sagen kann. Sie hat Stabilität in die europäische Union gebracht. Mit Frau von der Leyen habe ich zunächst in Salzburg und zuletzt in Brüssel näher Kontakt haben dürfen – insgesamt aber zu kurz, um ihre Persönlichkeit beschreiben zu können. Sie war aber bestens vorbereitet, sehr professionell, überaus freundlich und belastbar, wie viele Frauen in Spitzenpositionen, die ich im Laufe der Jahre kennen gelernt habe.
Was waren Ihre ersten Gedanken, als der Bundespräsident van der Bellen sie gefragt hat, ob Sie das Bundeskanzleramt übernehmen wollen? Haben Sie mit der Frage gerechnet und was waren die ersten Schritte nach der Entscheidung für das neue Amt?
Als mich der Herr Bundespräsident gefragt hat, ob ich das Bundeskanzleramt übernehmen würde, war ich zunächst einfach nur perplex. Ich hätte nie mit dieser Frage gerechnet. Nach der Einladung zu einem persönlichen Treffen wäre ich allenfalls von der Möglichkeit ausgegangen, das Justizressort zu übernehmen, da ich zuvor jahrelang in diesem Bereich tätig gewesen bin. Mein erster Gedanke nach der Frage des Bundespräsidenten war, dass ich das nicht kann und nicht schaffe, da ich zuvor nie politisch und schon gar nicht parteipolitisch tätig war. Ich war und bin stets Juristin. Natürlich lernt man im Studium über das politische System und verfolgt in den Medien die politischen Aktivitäten, aber man hat als Außenstehende wenig Einblick, wie das Regieren in all seinen Nuancen funktioniert. Der Herr Bundespräsident meinte auf meine erste Reaktion hin, dass dies die typische Reaktion einer Frau sei und dass ich mir es zumindest überlegen solle. Ich habe den Bundespräsidenten um eine Nacht Bedenkzeit gebeten. In den folgenden Stunden vergegenwärtigte ich mir die aktuell schwierige Situation Österreichs und dachte, wenn mir der Bundespräsident diese höchst verantwortungsvolle Funktion zutraut, sollte ich mir das auch zutrauen und dieses Amt für Österreich übernehmen. Außerdem stellte ich mir selbst die Frage, wann wohl das nächste Mal eine Frau die Chance bekäme, dieses wichtige Amt auszufüllen. Dieser Gedanke war letztlich ausschlaggebend für mich. Ich dachte mir, auch für die Sache der Frauen kann ich das nicht ausschlagen. Es war mir persönlich und auch als Zeichen nach außen sehr wichtig, dass die Hälfte der Regierungsmitglieder weiblich ist. Der Bundespräsident wollte die Angelobung rasch durchführen, um den Menschen in unserem Land zu zeigen, dass Verwaltung und Institutionen erstklassig funktionieren. Wir haben in den folgenden Tagen durchgearbeitet. Es war eine menschlich wie fachlich äußerst wertschätzende und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Herrn Bundespräsidenten. Ich bin sehr froh, dass wir diesen Bundespräsidenten haben und hoffe, dass er auch für die nächste Amtsperiode zur Wiederwahl antreten wird.
Was ist aus Ihrer Sicht das stärkste Mittel, um für mehr Gleichberechtigung im Beruf zu sorgen? Was halten Sie von Frauenquoten?
Es ist glücklicherweise schon viel erreicht worden. Damals, als ich meine Laufbahn begonnen habe, gab es noch sehr wenige Frauen in der Justiz und eine Frau an der Spitze war eine Rarität. Es wundert mich, dass es doch so viele Jahre dauerte, bis sich das geändert hat. Ich orte nach wie vor einen Nachholbedarf in Vorstandsetagen und Aufsichtsratsmandaten in der Privatwirtschaft. Ich war an sich keine große Befürworterin der Frauenquote, weil ich davon ausging, dass Frauen so etwas nicht nötig hätten. Mir war immer wichtig, dass die Qualifikation entscheidend ist. Leider ist das Gleichziehen der Frauen offenkundig nicht rasch genug erfolgt – wenn es sonst nicht anders funktioniert, gibt es wohl keine andere Möglichkeit als die Quote. Ich habe also meine Meinung über die Frauenquote im Laufe der Zeit geändert und bin jetzt für eine solche Quote in Bereichen, in denen es noch erkennbar Bedarf gibt.
Was nehmen Sie mit aus Ihrer Zeit als Bundeskanzlerin? Welche neue Perspektive hat sich Ihnen durch das Ausüben dieser Funktion eröffnet?
Ich hatte immer das Glück, eine Tätigkeit ausüben zu dürfen, die mir viel Freude gemacht hat. Die Kanzlerschaft war in meiner beruflichen Karriere sicherlich die spannendste Zeit. Besonders interessant war der Einblick in komplexe politische Prozesse, die europäische Komponente, die Zusammenarbeit mit dem Regierungsteam, woraus sich Freundschaften bis heute ergeben haben und insbesondere auch internationale Tätigkeiten. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York bedeutete ein besonders beeindruckendes und spannendes Ereignis für mich. Aber vor allem der breite Dialog mit so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft in oft schwierigen Lebenssituationen, mit zahlreichen ehrenamtlich Tätigen, mit Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat mich nachhaltig geprägt. Es war und ist die größte Ehre meines Lebens, dieses Amt ausgeführt haben zu dürfen. Und ich bin dankbar, dass ich eigentlich nur positive Erfahrungen im Bundeskanzleramt gemacht habe.
Sie haben über mehrere Jahrzehnte lang in der Justiz in verschiedenen Rollen gearbeitet und sich damit mit den weniger schönen Aspekten des menschlichen Handelns auseinandergesetzt. Hat das Ihren Blick auf die Gesellschaft oder den Menschen verändert?
Im Strafrecht hat man mit schwerwiegender Delinquenz bis hin zu Mord und Sexualdelikten zu tun, was anfangs teilweise nicht leichtfällt. Ohne eine gewisse emotionale Distanz ist die Ausübung des Berufs einer Staatsanwältin kaum möglich. Man darf auf der anderen Seite auch nie die Empathie verlieren, vor allem für die Opfer. Ich fand diese Funktion höchst spannend, weil auch derartige Fälle leider zu den vielen Facetten des Lebens gehören und in einem fairen Verfahren unter Beachtung der Grundechte abgehandelt werden müssen, um dem Rechtsstaat Genüge zu tun.
Haben Sie Erfahrungen als Bundeskanzlerin gemacht, die sie vielleicht überrascht oder schockiert haben?
Was mich anfangs überrascht hat, waren die Abläufe der Europäischen Räte in Brüssel. Am Morgen bin ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, oft auch mit dem aktuellen Bundeskanzler (und damaligen Außenminister) Alexander Schallenberg in das Flugzeug gestiegen und bis zum Schluss haben sich Änderungen im Programm ergeben. Die Räte zogen sich fast immer bis in die Nachtstunden und anlassbezogen auch entscheidend länger bis in den nächsten Tag. Mein pragmatischer Zugang war es daher, so flexibel wie möglich zu bleiben und mit den eigenen Reserven zu haushalten. Man wusste aufgrund der Vielzahl an Themen und Diskussionen nie, wie lange es dauern würde.
Aus der Schilderung vom Ablauf in Brüssel lässt sich erschließen, wie unfassbar langwierig und anstrengend diese Veranstaltungen sein können. Ist da eine Work-Life-Balance überhaupt möglich?
In meiner Zeit als Bundeskanzlerin war dies sicher nicht möglich. Ich wusste aber, dass meine Zeit im Bundeskanzleramt in dieser Sonderkonstellation begrenzt sein würde. Das war auch mit einer der Gründe, warum ich dieses Amt angetreten habe. Eine reguläre Periode von fünf Jahren war nie eine Option. Mein Arbeitstag als Bundeskanzlerin hat meist vor 7.30 Uhr begonnen und ging oft bis Mitternacht. Seltene private Termine mussten akribisch geplant werden. Abgesehen davon ist man als Bundeskanzlerin tatsächlich durchgehend unter Beobachtung, nicht zuletzt durch die mediale Berichterstattung.
Eine Frage zu Ihrer Zeit am Verfassungsgerichtshof mit dem Höhepunkt der Funktion der Präsidentin: Durch welche Mittel kann die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit sichergestellt werden? Und ist dies überhaupt möglich, da schließlich jeder Mensch durch persönliche Erfahrungen, Werte und eine individuelle Weltanschauung geprägt ist?
Im Verfassungsgerichtshof werden schwierige Themen, wie beispielsweise zuletzt die Sterbehilfe oder schon davor die „Ehe für Alle“ oder die Vorratsdatenspeicherung, intensiv und auf höchstem fachlichen Niveau diskutiert. Die Richterinnen und Richter agieren völlig unabhängig auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Vorgaben und nicht entlang von politischen Erwägungen. Die Unabhängigkeit ist unter anderem durch die lange Funktionsdauer bis zum Alter von 70 Jahren und durch die geheime Abstimmung sehr gut abgesichert. Es sind mitunter auch ethisch extrem sensible Fragen, zu denen es unterschiedliche Weltanschauungen und Meinungen gibt. Das ist vom Gesetzgeber auch so gewünscht, denn im Verfassungsgerichtshof soll sich die österreichische Bevölkerung wiederfinden. Entscheidungen werden auf keinen Fall leichtfertig gefällt. Die relevanten Verfassungsfragen werden oft tage- bis wochenlang diskutiert. Es sind gemeinsam getragene Entscheidungen, die einer Stimmenmehrheit bedürfen.
Was sind grundsätzlich Ihre persönlichen Karriere-Tipps und welche speziell für Frauen?
Man muss Chancen ergreifen, wenn sie sich bieten. Sie bieten sich nicht immer. Es gibt mehr qualifizierte Menschen als Positionen. Man muss vor allem als Frau auch den Mut haben, sich etwas zuzutrauen. Ich glaube, dass Frauen ihre Kompetenz noch immer mehr hinterfragen als Männer, obwohl diese Haltung bei Frauen der jungen Generation schon wesentlich besser geworden ist. Man muss manchmal auch ins kalte Wasser springen. Für mich war das Amt der Bundeskanzlerin zweifellos ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wusste anfangs ja nicht, ob das gut gehen wird, aber es war die richtige Entscheidung und ich habe keinen Tag bereut. Außerdem ist eine fundierte Ausbildung wichtig für eine erfolgreiche Karriere. Es ist auch hilfreich, Selbstbewusstsein und Präsenz zu zeigen. Viele Frauen neigen ungerechtfertigter Weise dazu, sich zu sehr zurückzunehmen. Und Frauen sollten einander noch besser unterstützen und fördern.
Sie blicken zurück auf eine unglaubliche Karriere: Von der Präsidentschaft am Verfassungsgerichtshof bis zum Bundeskanzleramt. Was sind die nächsten Ziele?
Nachdem ich so viel erreichen durfte, möchte ich der Gesellschaft etwas zurückgeben. Ich engagiere mich ehrenamtlich in verschiedenen juristischen Vereinen und gemeinnützigen Stiftungen. Mich fasziniert außerdem Kunst und Kultur schon seit meiner Jugend, der Austausch mit Kunstschaffenden inspiriert mich. Ich bin derzeit Vorsitzende des Aufsichtsrates der Bundestheaterholding, wodurch mein Blick auf die inneren Abläufe der Opern- und Theaterszene geschärft wurde. Bereits seit längerem bin ich auch ehrenamtlich für die sogenannte Klasnic-Kommission tätig, die sich um kirchliche Opfer von gewaltsamen und sexuellen Übergriffen kümmert. Zudem leite ich eine Compliance-Kommission des Roten Kreuzes und bin in mehreren kulturellen Institutionen aktiv, wie zum Beispiel im Leopoldmuseum, das die weltweit größte Schielesammlung beherbergt, oder beim Grafenegg Musikfestival und im Kunstforum. Sehr wichtig ist mir der Kontakt zu jungen Menschen. Ich halte Vorträge und lehre fallweise an Universitäten. Es ist mir ein Anliegen, der Jugend etwas mitzugeben, vor allem ein Sensorium für die Bedeutung unseres liberalen Rechtsstaates. Die Zukunft seid ihr und ich möchte den unschätzbaren Wert von Menschenrechten und Demokratie, der auch teilweise in europäischen Ländern in Frage steht, vermitteln. Dieser Wert wird von der jungen Generation überwiegend als selbstverständlich wahrgenommen, doch der demokratische Rechtsstaat ist ein fragiles Privileg, für das man einstehen und für das man individuell etwas tun muss – Tag für Tag.