Frau Friedländer, während Ihrer Zeit als Wirtschaftsanalystin bei der CIA haben Sie sich mit Themen wie der Eurokrise und internationalen Energiemärkten beschäftigt. Welche Erkenntnisse aus dieser Zeit beeinflussen Ihre derzeitige Arbeit bei der Atlantik-Brücke? 

Ihre Frage greift einen zentralen Punkt meiner beruflichen Entwicklung auf. Bereits in jungen Jahren, etwa mit 25 oder 26, trat ich meine erste Position als Wirtschaftsanalystin bei der CIA an. Zu jener Zeit mangelte es mir noch an einem umfassenden Verständnis für den globalen wirtschaftlichen Kontext, in dem ich operierte. Die Entstehung der G20 als Plattform zur Bewältigung globaler Finanzkrisen, insbesondere der Krise von 2008, war prägend für mich und schärfte mein Verständnis für die Dynamiken der Weltwirtschaft. Diese Periode markierte eine Zäsur: Was damals als außergewöhnliche Herausforderung galt, erscheint heute als Selbstverständlichkeit. Besonders intensiv war meine Arbeit im Kontext der Eurokrise, wo ich täglich Daten zu Credit Default Swaps lieferte, getrieben von der Sorge um den möglichen Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone. Diese Verantwortung in jungen Jahren, eine zentrale Informationsquelle zu sein, hat meine berufliche Perspektive nachhaltig geformt und beeinflusst auch heute meine Tätigkeit bei der Atlantik-Brücke. Meine damalige Arbeit umfasste auch die Anfertigung einer Studie, die auf exklusiven, nicht öffentlich zugänglichen Daten basierte. Sie thematisierte die Notwendigkeit für die deutsche Wirtschaft, ihre Absatzmärkte in Südeuropa neu auszurichten, da die damaligen Länder nicht schnell genug wuchsen, um die Nachfrage zu absorbieren. Dies führte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien zu Herausforderungen für die exportorientierte Wirtschaft, da traditionelle Märkte entfielen und die damals als Schwellenländer geltenden Staaten, insbesondere China, unterschiedliche Wachstumserwartungen hatten. Diese früheren Beobachtungen und Analysen zeigen, dass ökonomische Stärke damals wie heute ein entscheidender Faktor sowohl in der Strategie von Staatsführern als auch im Rahmen militärischer und politischer Auseinandersetzungen ist. Es geht dabei nicht darum, die Wirtschaft per se als Waffe zu nutzen, sondern um die Anwendung ökonomischer Mittel in geopolitischen Strategien. Was wir aktuell erleben, ist ein Paradigmenwechsel: Wirtschaftsmaßnahmen wie Sanktionen, Exportkontrollen und Investitionsprüfungen, Bereiche, in denen ich spezialisiert bin, haben sich zu zentralen Instrumenten in internationalen Konflikten entwickelt – wirtschaftliche Maßnahmen stehen im Mittelpunkt unserer geopolitischen Strategien. Rückblickend erkennt man, dass wir oft unsere eigenen Schwächen durch neue Herausforderungen ersetzt haben, eine Entwicklung, die schwer vorherzusehen war. Diese Erfahrungen aus meiner Zeit bei der CIA sind für meine derzeitige Arbeit bei der Atlantik-Brücke von unschätzbarem Wert, da sie mir ein tiefes Verständnis für die Verflechtung von Wirtschaft und Politik auf internationaler Ebene vermittelt haben. 

Wie hat Ihre Zeit als leitende Politikberaterin im US-Finanzministerium während der Krimkrise Ihre Sicht auf die transatlantischen Beziehungen beeinflusst? 

Während meiner Zeit als leitende Politikberaterin im US-Finanzministerium während der Krimkrise wurde mir deutlich, wie essentiell eine ausreichende Expertise in Wirtschaftsfragen für die Bewältigung internationaler Konflikte ist. Das Finanzministerium war damals personell nicht optimal aufgestellt, was Volkswirte und Wirtschaftsexperten anbelangt. Diese Lücke führte zu Herausforderungen bei der Entwicklung von Sanktionen, insbesondere gegenüber Ländern wie Russland, die tief in die globalen und transatlantischen Wirtschaftssysteme integriert sind. Unsere Beziehungen zu Russland waren komplex, geprägt von einer Mischung aus Abhängigkeit und dem Bestreben, Russland schrittweise zu demokratisieren. Die Annahme aus den 90er Jahren, dass Russland lediglich unsere Unterstützung suchte und sich zunehmend westlichen Werten annähern würde, musste grundlegend überdacht werden. Unter der Obama-Administration wurde klar, dass die Integration Russlands in die westliche Welt ein langwieriger und komplizierter Prozess sein würde. Der Überfall auf die Ukraine acht Jahre später bestätigte unsere Befürchtungen und die Notwendigkeit, unsere Sanktionspolitik zu überdenken. Die Herausforderung bestand darin, effektive Maßnahmen zu entwickeln, die nicht nur Russland betrafen, sondern auch die potenziellen Auswirkungen auf große Volkswirtschaften wie Deutschland berücksichtigten. Die Einführung von Sanktionen gegen Schlüsselindustrien wie die Energie- und Metallurgiebranche war ein Novum und erforderte eine gründliche Bewertung der langfristigen Konsequenzen. Von Beginn an war klar, dass diese Sanktionen nur in enger Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern wirksam sein würden. Die Bildung einer G7-Gruppe und die enge Kooperation mit der Europäischen Kommission waren entscheidend. Trotzdem gab es das Gefühl, dass Europa die Dringlichkeit der Situation nicht vollständig erfasste und zu sehr auf den Schutz eigener Wirtschaftsinteressen bedacht war. Dies führte zu einer zögerlichen Umsetzung der notwendigen Maßnahmen, die erst mit dem 22. Februar 2022 wieder voll an Fahrt aufgenommen haben.  

Mit Blick auf aktuelle geopolitische Herausforderungen wie den Krieg in der Ukraine: Welche Rolle sollte Europa Ihrer Meinung nach einnehmen, um seine Sicherheit zu gewährleisten, und wie kann die Atlantik-Brücke dazu beitragen, dieses Ziel zu unterstützen? 

Angesichts der geopolitischen Herausforderungen, wie dem Konflikt in der Ukraine, steht Europa vor einer Identitätskrise, die eine Neubewertung seiner Rolle erfordert. Die NATO, traditionell ein Anker der transatlantischen Sicherheitspolitik und stark von den USA beeinflusst, bleibt eine fundamentale Säule für Europas Verteidigung. Doch es ist zunehmend klar, dass Europa seine Sicherheitspolitik stärker selbst gestalten muss. Die Atlantik-Brücke unterstützt diesen Prozess, indem sie die transatlantische Zusammenarbeit stärkt und den Dialog fördert. Erst kürzlich haben wir Jens Stoltenberg, den aktuellen NATO-Generalsekretär geehrt, was unsere tiefe Überzeugung unterstreicht, dass die transatlantische Partnerschaft entscheidend ist. Jedoch lehrt uns die aktuelle Situation, dass Sicherheitsfragen zunehmend von Europa selbst bestimmt werden sollten. Diese Erkenntnis ist besonders für die USA von Bedeutung, da sie ihre militärischen Verpflichtungen überdenken und die Rolle in einer multipolaren Welt neu definieren. In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird deutlich, dass wir nicht mehr in einer Zeit des Friedens leben. Dies erfordert eine umfassende Stärkung der europäischen Verteidigungsstrukturen, einschließlich Rüstungsindustrie, Beschaffung und die Integration der Armeen. Die Europäische Union spielt dabei eine zentrale Rolle, besonders bei der Gewährleistung der Interoperabilität der Streitkräfte. Allerdings müssen wir realistisch sein: Die Transformation zu einer voll integrierten europäischen Verteidigungsstrategie ist ein langfristiger Prozess. In Deutschland beispielsweise sehen wir die Herausforderungen beim Wiederaufbau der Strukturen nach dem Ende der Wehrpflicht. Diese Anstrengungen benötigen Zeit, was sich auch in den kommenden Wahlen widerspiegeln könnte. Doch unabhängig von politischen Entwicklungen bleibt die Notwendigkeit bestehen, in Deutschland und Europa robuste Verteidigungskapazitäten zu entwickeln. 

In Ihrer aktuellen Position bei der Atlantik-Brücke fokussieren Sie sich stark auf die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Dynamik dieser Beziehungen und welche Änderungen schlagen Sie vor, um die Partnerschaft zu stärken? 

Die transatlantischen Beziehungen haben sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt, insbesondere durch die politischen Entwicklungen in den USA. Die Ära Trump war für viele ein Schock, der die Erwartungen an die Rolle Deutschlands und seine Selbstwahrnehmung innerhalb Europas und gegenüber den USA herausgefordert hat. Deutschland, als die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt hat oft die Neigung, sich unter Wert zu verkaufen, möglicherweise um sich vor größerer Verantwortung zu schützen. Diese Zurückhaltung führt dazu, dass Deutschland in den USA und anderen Teilen der Welt oft schärfer kritisiert wird als andere europäische Nationen. Auf operativer Ebene zeigt sich jedoch, dass Deutschland in den Augen der USA ein hochgeschätzter Partner bleibt, oft betrachtet als die zweite oder sogar die erste Anlaufstelle in Europa, abhängig von der jeweiligen Problematik. Diese Wahrnehmung spiegelt die tief verwurzelte Partnerschaft wider, die jedoch auch von unrealistischen Erwartungen und teils überholten Vorstellungen belastet wird. Was wir brauchen, ist eine Neuausrichtung dieser Beziehungen auf Augenhöhe. Deutschland ist längst kein besetztes Land mehr, und die Präsenz amerikanischer Truppen dient heute vorrangig strategischen Zielen innerhalb eines vereinten Europas. Eine der zentralen Fragen, die wir uns stellen müssen, ist, in welchen Bereichen eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USA notwendig ist. Hier stehen internationale Wettbewerbsfähigkeit und der Vorstoß in neue Technologien im Vordergrund. Diese Themen sind entscheidend, um auf beiden Seiten des Atlantiks moderne und leistungsfähige militärische sowie zivile Infrastrukturen zu entwickeln. In dieser Hinsicht sieht sich die Atlantik-Brücke als eine Art Katalysator für eine gleichberechtigte Partnerschaft, die über das traditionelle Bild von ‘großem Bruder und kleinem Bruder’ hinausgeht. Wir sind bestrebt, Plattformen und Initiativen zu schaffen, die diese wichtigen Themen vorantreiben und eine Basis für eine faire und produktive Zusammenarbeit bieten. 

Die anstehenden US-Wahlen könnten signifikante Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen haben. Welche Auswirkungen erwarten Sie, und wie bereitet sich die Atlantik-Brücke auf verschiedene Wahlergebnisse, wie zum Beispiel eine Wiederwahl Trumps, vor? 

Die bevorstehenden US-Wahlen stehen im Zentrum unserer täglichen Diskussionen bei der Atlantik-Brücke, da sie potenziell erhebliche Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen haben könnten. Die Präsidentschaft von Donald Trump hat beispielsweise gezeigt, wie groß die Schwankungen in der Außenpolitik sein können und wie stark dies die Beziehungen zu Europa beeinflusst hat. Seine Politik und Kommunikationsweise, oft geprägt durch impulsives Handeln und kontroverse Tweets, haben nicht nur mediale Aufmerksamkeit erregt, sondern auch zu einer Neubewertung der strategischen Ausrichtung Europas geführt. In der Atlantik-Brücke sind wir jedoch sehr pragmatisch. Unsere Mitglieder sind tief in transatlantischen Belangen verankert, sei es direkt oder indirekt durch ihre professionelle Tätigkeit in Europa. Diese praktische Ausrichtung ermöglicht es uns, flexibel auf Veränderungen zu reagieren und Strategien zu entwickeln, die robust genug sind, um unterschiedliche politische Szenarien zu überstehen. Wir analysieren ständig die politischen Entwicklungen und ihre möglichen Auswirkungen auf Europa. Unser Ziel ist es, unabhängig vom Wahlausgang, die Grundlagen für eine robuste transatlantische Partnerschaft zu stärken. Dabei fokussieren wir uns auf Schlüsselbereiche wie Finanzmarktpolitik, Verteidigungspolitik und Handelspolitik, um sicherzustellen, dass transatlantische Interessen auch in turbulenten Zeiten gewahrt bleiben. Wir sind uns bewusst, dass die USA ein unverzichtbarer Partner für Europa sind, aber wir sind auch darauf vorbereitet, europäische Interessen eigenständig zu vertreten und zu schützen. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zu finden, die es Europa erlaubt, seine eigenen strategischen Entscheidungen zu treffen, ohne die transatlantische Allianz zu gefährden. In diesem Sinne fördert die Atlantik-Brücke den Dialog und die Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass beide Seiten als gleichberechtigte Partner agieren können. Letztlich ist es unser Anliegen, dass Europa und die USA gemeinsam auf globalen Herausforderungen reagieren können, ohne dass eine Seite dominiert. Die Unberechenbarkeit bestimmter politischer Figuren erfordert von uns eine flexible und vorausschauende Planung. Wir sind bereit, auf jede politische Konstellation zu reagieren und dabei die transatlantischen Beziehungen zu festigen und weiterzuentwickeln. 

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Julia Friedlander ist seit Juni 2022 Geschäftsführerin der Atlantik-Brücke. Zuvor leitete die gebürtige New Yorkerin die Economic Statecraft Initiative beim Atlantic Council in Washington, D.C. und arbeitete ein Jahrzehnt für die US-Regierung. Sie war Senior Policy Advisor im US-Finanzministerium und Direktorin für EU- und Wirtschaftspolitik im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses. Vor 2015 war sie bei der CIA in der Wirtschafts- und Energiesicherheit tätig. Friedlander hat Abschlüsse von Princeton und der Johns Hopkins University und verbrachte vor ihrem Studium zwei Jahre in Berlin mit einem DAAD-Stipendium.