Alexander Rodnyansky ist ein ukrainischer Volkswirt und Wirtschaftsberater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Herr Rodnyansky wurde in der Ukraine geboren und wuchs in Deutschland auf. Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre an der London School of Economics promovierte er an der Princeton University. Heute ist Herr Rodnyansky Assistenzprofessor für Volkswirtschaftslehre an der University of Cambridge. Gegenwärtig berät Herr Rodnyansky den ukrainischen Präsidenten bei Fragen der Kriegswirtschaft, Sanktionsmassnahmen gegen Russland und dem Wiederaufbau der Ukraine.
Herr Rodnyansky, Sie befinden sich momentan in Kiew. Bei der Vorbereitung unseres Interviews mussten wir auf temporäre Abschaltungen der Stromversorgung Rücksicht nehmen. Wie gestaltet sich momentan Ihr persönlicher Alltag?
Das Leben in Kiew momentan ist mühsam. Seitdem der Krieg begonnen hat, ist Kiew deutlich leerer geworden. Generell haben wir, wie Sie es schon angesprochen haben, leider kaum Strom. Der Strom wird immer wieder abgeschaltet. Diese Abschaltungen sind zufällig. Entsprechend schwer ist es, seinen Tag zu planen. Man muss bei banalen Dingen, wie dem Starten der Waschmaschine oder dem Laden des Handys eben opportun sein. Heute (16.12.2022) gab es zum Beispiel wieder einen neuen Angriff auf unsere Wasserversorgung. Schon in den vergangenen Tagen hatte ich teilweise kein Wasser. Das ist eine neue Stufe der Eskalation und Unbequemlichkeit, da eine schwer beschädigte Wasserversorgung viele Lebensbereiche beeinträchtigt. Viele Menschen stellen ihre Wasserversorgung mit Kanistern sicher. Manche sehen sich sogar dazu gezwungen, Wasser aus Pfützen zu nehmen, wenn ihre Vorräte ausgehen. Auch das Mobilfunknetzt setzt teilweise aus. Manchmal bleibt einem bei Dunkelheit nichts anderes übrig, als etwas am Handy herumzuspielen. Ein Buch lesen kann man im Dunkeln ja auch nicht ohne Strom.
Ich möchte aber auch sagen, dass es in Kiew nach wie vor Facetten der Normalität gibt. Bei ausreichender Strom- und Wasserversorgung sind Restaurants weiterhin geöffnet. In meiner Freizeit versuche ich, ins Fitnessstudio zu gehen oder anderweitig Sport zu machen. Man trifft auf den Strassen viel weniger Menschen an, aber es gibt sie noch. Was man hingegen umso häufiger antrifft, sind Journalisten und Militärs. Die Ukraine hat sich zu einem Hub für Journalisten entwickelt. Hier in Kiew machen Journalisten aus der ganzen Welt gerade Karriere. Für Militärs ist unser Land momentan ein sehr interessanter Ort. Viele NATO-Generäle kommen zu uns und wollen von den Erfahrungen unserer Armee lernen. Insbesondere die USA nehmen die Kriegsgeschehnisse mit grossem Interesse zur Kenntnis und versuchen so gut es nur geht, Erkenntnisse für die eigene Militärtaktik zu erlangen. Einen derartigen Krieg zweier grosser konventioneller Mächte gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, insbesondere nicht mit hochmodernen Waffensystemen, wie sie momentan zum Einsatz kommen. Entsprechend spannend sind die Geschehnisse für das U.S. Militär. Die Amerikaner besuchen beispielsweise sehr häufig unsere Militärbasis in Yavoriv.
Sie sind schon seit ein paar Jahren Berater von Präsident Selenskyj. Was muss man sich aktuell unter Ihrer Arbeit vorstellen?
Vor der Invasion war ich für makroökonomische Themen wie Geldpolitik, Finanzpolitik oder Finanzmarktregulierung zuständig. Mir oblag auch die Kommunikation mit der ukrainischen Zentralbank. Ausserdem trug ich zur Gestaltung von Reformprozessen, wie Arbeitsmarkreformen, bei. Das ist weiterhin eine Aufgabe, die mich beschäftigt, obgleich sie aktuell weniger Priorität geniesst. Ich habe auch seit 2021 einen Posten im Aufsichtsrat der grössten Bank der Ukraine (gemessen an der Anzahl unserer Filialen). Dieses Mandat ist ebenfalls sehr anspruchsvoll, da ich als Aufsichtsratsmitglied per Gesetz für einen grossen Teil des operativen Geschäfts unmittelbar verantwortlich bin.
Seit der Invasion sind noch viele weitere Aufgaben hinzugekommen, die absolute Priorität geniessen. Ein Beispiel wäre die Sanktionspolitik. Ich bin Mitglied einer internationalen Sanktionsgruppe, die die Wirkung gegenwärtiger Sanktionen genau beobachtet und analysiert. Wir schauen wo Sanktionen tatsächlich wirken und wo es Nachholbedarf gibt. Daraufhin formulieren wir Empfehlungen für die weitere Verbesserung der Sanktionen.
Ein weiterer Teil meiner Arbeit stellt momentan die Planung des Wiederaufbaus der Ukraine dar. Hier will der Präsident, dass ich eine zentrale Rolle spiele. Bei der zurückliegenden Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine in Berlin war ich der Koordinator von ukrainischer Seite. Das Thema Wiederaufbau wird mich aber vor allem zukünftig noch stärker beschäftigen. Im Moment geht es eher darum, sich konzeptionell darüber Gedanken zu machen, wie der Wiederaufbau aussehen soll und welche Institutionen wir hierfür schaffen müssen.
Als Berater im Präsidialamt kommen auch einige operative Aufgaben dazu. Momentan empfangen wir sehr viele, meist internationale Delegationen in verschiedenartigen Besetzungen. Ich bin für manche dieser Delegationen zuständig und koordiniere ihren Besuch und die Dialogformate.
Sie hatten gesagt, dass Sie Teil einer Sanktionstaskforce sind. Wie schätzen Sie die Wirkung der aktuellen Sanktionen ein und welche weiteren Sanktionen braucht es in Ihren Augen, um noch härter gegen Russland vorzugehen?
Das Beispiel der russischen Orlan-10 Drohne zeigt sehr gut, wo es momentan noch Nachholbedarf gibt. Jüngste Reportagen zeigen, dass ein Grossteil der Bauteile der Drohne weiterhin aus westlicher Produktion stammen. Russland schafft es also nach wie vor, über Mittelsmänner und Zwischenhändler in Drittstaaten westliche Sanktionen zu umgehen. Entsprechend sind Sekundärsanktionen, also Strafmassnahmen gegen beteiligte Staaten und Unternehmen, die dabei helfen, die bestehenden Sanktionen zu umgehen, nötig. Dabei reden wir über Staaten wie China oder Indien. Derartige Massnahmen wären momentan wirklich notwendig, um das Sanktionsregime wasserdicht zu machen. Was helfen verabschiedete Sanktionen, wenn sie nicht wirklich greifen?
Des weiteren ist die Ausweitung von sektoralen Sanktionen auf weitere Finanz- und Energieunternehmen ein wichtiges Thema. Manche Unternehmen dieser beiden Branchen mit Verstrickungen nach Russland werden von den Sanktionen noch gar nicht erfasst. Und schliesslich muss auch die Sanktionierung von Individuen ausgeweitet werden. Bis jetzt sind 1000 Individuen sanktioniert. Das ist ein Tropfen auf den heissen Stein der korrupten und kriminellen russischen Elite. Wir führen in einem Portal der National Agency on Corruption Prevention (NACP) eine Liste mit Leuten, die in unseren Augen sanktioniert gehören. Diese Liste kann eingesehen werden. Dort legen wir zu jedem Fall sehr akribisch dar, was die Begründung für unseren Vorschlag ist. Wenn man uns wegen Befangenheit in dieser Sache nicht vertraut, lohnt sich auch ein Blick in die Sanktionslisten, die von dem Team um den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny geführt werden. Zwischen den 6000 Namen auf diesen Listen und unseren Auflistungen gibt es eine hohe Überschneidung. Bei diesen Namen könnte man ansetzten, zumal diese ganzen Namen immer noch nicht richtig von den allgemeinen Sanktionen getroffen werden. Das Leben der russischen Oligarchen, die mitverantwortlich für das sind, was momentan geschieht, sich aber nach wie vor als Opfer der Geschehnisse stilisieren, hat sich kaum verändert. Es ist nur ein bisschen unbequemer geworden, weil es keine Direktflüge zwischen Moskau und Paris mehr gibt. Die Oligarchen müssen jetzt über die Türkei fliegen. Viel mehr ist nicht passiert und das darf so nicht bleiben. Erst jüngst wurde ein einziger Oligarch sanktioniert. In dieser geringen Grössenordnung sind Sanktionen nicht wirksam.
Dass breit angelegte Sanktionen wirken, zeigt das Beispiel der Sanktionen gegen das Atomprogramm im Iran, welche nicht nur vom Westen, sondern auch von Staaten wie China und Russland getragen wurden. Auf diesen Druck von allen Seiten hin folgte auch die Bereitschaft des Irans, über das Atomprogramm zu verhandeln. Von einer solchen Situation sind wir im Krieg mit Russland noch weit entfernt. Indien beispielsweise trägt keinerlei Sanktionen mit. China hilft Russland, an alle möglichen Produkte zu kommen. Die Türkei spielt dieses Spiel ebenfalls mit und exportiert viele wichtige Produkte nach Russland und umgeht damit die Sanktionen. Darüber freuen sich die russischen Machthaber natürlich. Das alles muss sich aber schleunigst ändern.
Sehr interessant. Wenn wir gerade beim Thema Sanktionen bleiben. Die Schweiz trägt die Sanktionen der EU in Teilen mit. Gleichzeitig dient die Schweiz nach wie vor als Unterschlupf für russische Oligarchen und russisches Geld. Spielt die Schweiz in Ihren Augen ein falsches Spiel?
Das ist eine interessante Frage. Vorweg, die Schweiz steht natürlich im Allgemeinen sehr eng an der Seite der Ukraine. Für die Unterstützung der neutralen Schweiz gegenüber der Ukraine sind wir auch sehr dankbar. Dennoch gibt es Schätzungen der Schweizerischen Bankiervereinigung, nach welchen in der Schweiz zwischen 150 und 200 Milliarden U.S. Dollar an russischem Geld gebunkert sind. Das ist viel Geld. Insofern kommt der Schweiz in meinen Augen eine besondere Rolle zu, wenn es um Sanktionen geht, die Individuen zum Ziel haben. Es gibt kaum ein Land ausser England, dass in dieser Hinsicht ein derart grosses Potenzial bietet, wie die Schweiz. Wenn man dieses Geld im Rahmen der Sanktionen konfiszieren könnte, könnte dies auch ein finanzieller Eckpfeiler des ukrainischen Wiederaufbaus sein. Wir würden begrüssen, wenn die Schweiz in dieser Hinsicht mehr Initiative zeigen würde.
Wir hatten das Thema Wiederaufbau nun schon mehrmals angeschnitten. Schätzungen veranschlagen die Kosten des Wiederaufbaus auf 750 Milliarden U.S. Dollar. Wie soll der Wiederaufbau der Ukraine finanziert werden?
Momentan gibt es viele Schätzungen zu diesem Thema. Generell hängt die Höhe der Schätzungen immer stark davon ab, was genau mit dem Wiederaufbau gemeint ist. Die 750 Milliarden U.S. Dollar, die Sie genannt haben, stammen noch von der Ukraine Recovery Conference in Lugano im Sommer 2022. Damals stellte man sich die Frage, was es wohl kosten würde, die ganze Ukraine, also auch Regionen, die nicht unmittelbar vom Krieg betroffen wurden, wie z.B. im Westen des Landes im Oblast Sakarpatska, welche von keiner einzigen Rakete getroffen wurde, von Grund auf wiederaufzubauen und zu modernisieren. Dann kommt man auf diese gewaltige Summe von 750 Milliarden U.S. Dollar. Wenn man diese Berechnungen nach den Raketenangriffen der letzten Monate heute wiederholen würde, dann wäre die Rechnung noch grösser. Andere Kalkulationen, beispielsweise von der Weltbank, die nur die angegriffenen Gebiete berücksichtigen und ausschliesslich mit dem Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur rechnen, liegen nur bei der Hälfte des genannten Betrags. Allerdings wurde diese Berechnung ebenfalls vor dem massiven Beschuss unserer Infrastruktur angestellt.
Allgemein ist es keinesfalls so, dass die angesprochene Summe in dieser Höhe dann auf irgendeinem Konto zu einem bestimmten Stichtag vorzufinden sein muss. Viel wichtiger ist es, genügend Geld zu haben, um der Ukraine einen Anschub in Richtung einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung zu geben. Die Behebung der gegenwärtigen Schäden wird Monate, wenn nicht sogar Jahre in Anspruch nehmen. Entsprechend werden die angesprochenen Summen auch über Monate und Jahre hinweg benötigt, nicht zu einem bestimmten Stichtag. Das Geld muss auch nicht komplett von externen Geldgebern kommen. Wir wollen den grössten Teil der Summe selbst durch unser eigenes Wirtschaftswachstum stemmen. Dennoch brauchen wir, wie gesagt, genügend Hilfen, um dieses Wachstum anzukurbeln. Wir müssen verhindern, dass die Ukraine in eine Armutsfalle abrutscht. Schon vor dem Krieg war die Ukraine kein besonders reiches Land. Wir dürfen aber nicht noch tiefer abrutschen. Ich glaube auch, dass wir das schaffen können.
Welche Rolle wird hierbei der Finanzsektor, insbesondere auch die Zentralbank der Ukraine, spielen?
Die Zentralbank hat grundsätzlich die Funktion, Geldpolitik, Finanzmarktpolitik und makroprudenzielle Politik zu betreiben. In unserem Fall bedeutet das dann konkret, dass die Zentralbank hauptsächlich auf den Bankensektor aufpassen muss und zusehen muss, dass dort ein begleitender Entwicklungsprozess in Gang kommt. Das bedeutet auch, dass viele Banken privatisiert werden müssen. Wir hatten bereits vor der Invasion einen sehr grossen Anteil an Staatsbanken. Das wurde jetzt noch mehr, da Banken, die unter russischem Einfluss standen nun verstaatlicht wurden. Das ist per se während des Krieges nicht unbedingt dramatisch, stellt aber langfristig für die Reformprozesse eine Herausforderung dar.
Zudem befinden sich sowohl im Krieg, als auch zu Friedenszeiten makroökonomische Fragestellungen ebenfalls im Zuständigkeitsbereich der Zentralbank. Hierbei geht es um Themen wie Inflation oder die Koordinierung der Schuldenanhäufung zusammen mit dem Finanzministerium. Auch jetzt während des Krieges ist die Koordination der Schuldenanhäufung ein grosses Thema. Wir finanzieren momentan fast die Hälfte unserer Staatsschulden mit der Neuemission von Geld. Wir drucken einfach Geld, mit dem wir den Krieg finanzieren. Und genau das geht ohne die Zentralbank nicht. Was den Wiederaufbau anbelangt, spielt die Zentralbank nicht unbedingt die wichtigste Rolle. In der Phase des Wiederaufbaus muss die Zentralbank schlicht dafür sorgen, dass makroökonomische Stabilität gewährleistet wird. Grösste Priorität geniesst hierbei das Thema Inflation, gefolgt von einem nicht zu grossen Anstieg der Staatsverschuldung und der reibungslosen Koordination mit dem Finanzministerium.
Insgesamt müssen wir nach dem Krieg auch die Rolle des Staates senken und stabile und leistungsfähige Kapitalmärkte schaffen. Wir haben momentan sehr stark unterentwickelte Finanzmärkte, die sich weder für Eigenkapitalfinanzierungen noch für Anleiheemissionen öffentlicher und privater Akteure eignen, geschweige denn für Finanzierungen über derivative Finanzinstrumente. Bisher bestand für grosse ukrainische Firmen nur die Möglichkeit, sich an ausländischen Kapitalmärkten zu finanzieren. Die Grundvoraussetzungen für die Entwicklung entsprechender Märkte zu schaffen ist auch eine Aufgabe der Zentralbank.
Nach dem 2. Weltkrieg hat Deutschland im Export von hochwertigen Maschinen und Anlagebauten und dem günstigen Einkauf ausländischer Energierohstoffe ein neues Erfolgsmodell gefunden. Wie soll nach dem Krieg das wirtschaftliche Erfolgsmodell der Ukraine aussehen?
Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich kein grosser Befürworter von Staatsinterventionen oder generell der Planung eines wirtschaftlichen Erfolgsmodells bin. Ich glaube, eine erfolgreiche Volkswirtschaft entsteht am besten durch Marktkräfte. Das lässt sich auch an den grossen Erfolgsgeschichten der Moderne erkennen. In den USA hat auch niemand die verschiedenen Industrien und Exportschlager, für die das Land bekannt ist, auf zentraler Ebene geplant. Keiner hat festgelegt, dass Hollywood aufgebaut wird, um Filme zu produzieren oder, dass das Silicon Valley gegründet wird, um High Tech Güter zu exportieren. Die grossen Erfolgsgeschichten sind durch die Privatwirtschaft und den freien Markt zu erklären. Die gleichen Prinzipien gelten auch für die Ukraine.
Wenn wir noch einmal auf die Frage zurückkommen, welche Erfolgsfaktoren die Ukraine auszeichnen, ist zuallererst der landwirtschaftliche Sektor zu nennen. Dies wird sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern. Die Ukraine hat sehr fruchtbares Land mit einem grossen Entwicklungspotenzial. Innerhalb der EU ist das aufgrund der Agrarsubventionen immer wieder ein Streitpunkt. Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass die Ukraine, mit einem Anteil von 74 % an der europäischen Agrarfläche, sehr viele landwirtschaftliche Güter produziert, von denen die meisten exportiert werden. Der zweite Erfolgsfaktor ist die Industrie. Diese ist leider durch den Krieg aktuell sehr stark beschädigt und zum Teil auch für immer zerstört. Das lässt sich gut am Beispiel von Mariupol veranschaulichen, wo es eine grosse Stahlproduktion gab, bis diese vollumfänglich von den Russen zerstört wurde. Das alles wieder neu aufzubauen, lohnt sich nicht mehr, was jedoch nicht heisst, dass die Ukraine ihr industrielles Potenzial vollkommen verloren hat.
In den zentralen Bundesländern der Ukraine werden nach wie vor Stahl und andere industrielle Güter produziert und es herrscht grosses Interesse vonseiten der Investoren an diesem Segment. Zudem bietet die Infrastruktur der Ukraine in Zukunft grosses Potenzial für den Export von grünem Wasserstoff über die bereits existierenden Pipelines. Vor allem Deutschland erhofft sich davon viel und signalisiert uns bereits heute Investitionsbereitschaft. Im Südosten der Ukraine in der Region Saporischschja, die ja gerade leider zum Teil besetzt ist, gibt es darüber hinaus viel Potenzial für Windkraft. In Europa und in Deutschland hat man nicht so viele Gegenden, die sich derart für die Erzeugung von Windkraft eignen, wie die Region Saporischschja. Der Wind sollte im Idealfall den ganzen Tag, das ganze Jahr lang unabhängig vom Wetter wehen. In Deutschland ist das zum Beispiel nur im Norden des Landes der Fall. Auch politisch gibt es in der Ukraine weniger Komplikationen und interne Kritik für solche Vorhaben. Grundsätzlich muss man bedenken, dass die Ukraine eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung hat und viele günstige Arbeitskräfte bietet. In den vergangenen Jahren hat dies zum Wachstum des IT-Sektors und der Entwicklung hochtechnologischer Produkte beigetragen. Die zukünftige Entwicklung dieser komparativen Vorteile und Erfolgsfaktoren muss aber in einem marktwirtschaftlichen Prozess erfolgen. Ich wäre sehr stark dagegen, dass wir einen Generalplan aufstellen, in dem wir wie zu Sowjetzeiten definieren, welche Industrien gefördert werden sollten und welche nicht.
Herr Rodnyansky, Sie haben bereits die wichtige Rolle von den privatwirtschaftlichen Akteuren umfassend dargestellt. Im Rahmen unserer aktuellen Ausgabe haben wir auch mit Filippo Grandi, dem hohen Flüchtlingskommisar der Vereinten Nationen, gesprochen. Dieser hat uns von der steigenden Relevanz privater Akteure in der Flüchtlingshilfe berichtet. Beobachten Sie einen ähnlichen Trend in der Ukraine?
Ja! Ich würde sagen, der Privatsektor und generell individuelle Akteure, die dort auch in dem humanitären Bereich grosse Hilfe leisten, spielen eine grosse Rolle bei der Flüchtlingshilfe. Wir haben eine Plattform für genau diese Zwecke ins Leben gerufen. Sie heisst United24 und ist eine Onlineplattform für die humanitäre und medizinische Unterstützung der Bevölkerung während des Krieges. Dort kann gespendet werden. Jeder, der der Ukraine helfen möchte, sollte sich an diese Plattform wenden, damit die Hilfe auch wirklich ankommt und zielgenau ist. Ohne die Unterstützung privater Akteure und ohne den Wunsch von Individuen, Hilfe zu leisten, würde diese Plattform nicht existieren. Deshalb hoffe ich auch, dass die Hilfe privater Akteure in Zukunft weiter bestehen wird.
Blickt man auf den Wiederaufbau Europas nach dem 2. Weltkrieg zurück, war es eine zentrale Errungenschaft, das besiegte Deutschland einerseits politisch, aber auch wirtschaftlich, begonnen mit dem Marshallplan, stark in das westliche System einzubinden. Grund dafür war mitunter die Angst vor der Sowjetunion. Heute sehen sich sowohl Europa als auch Russland zunehmender chinesischer Einflussnahme ausgesetzt. Wie sollte Russland in eine Nachkriegsordnung politisch und wirtschaftlich eingebunden sein? Russland wird ja auch nach dem Krieg nicht einfach von der Landkarte verschwinden.
Das ist eine gute Frage und ein sehr schwieriges Thema. Wir sind langfristig fundamental daran interessiert, dass Russland einen demokratischen Weg der Entwicklung für sich wählt und nicht einen autoritären wie bisher. Die Transition dorthin ist aber sehr schwierig und bis jetzt leider nicht erfolgreich. Deswegen müssen wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich Russland intern auf diesen Weg begibt. Und leider bin ich hier noch etwas pessimistisch. Ich sehe momentan leider keinerlei Anzeichen dafür, dass in Russland eine Nachfrage seitens Bevölkerung nach diesem Weg besteht.
Der Vergleich mit Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ist daher kein guter Vergleich, schliesslich war Deutschland zum damaligen Zeitpunkt besiegt und besetzt. Wegen der totalen Niederlage gab es einen Prozess der Erneuerung und der Reflexion, welcher ein neues Verständnis davon geformt hat, wie man in Zukunft als Teil der globalen Welt agieren möchte. Das ist in Russland noch in keinerlei Hinsicht der Fall und damit Kern des Problems. Man kann Russland nicht in eine neue Ordnung einbinden oder verändern, wenn der Veränderungswille von innen nicht existiert. Wir wissen aus Studien, dass der Grossteil der russischen Bevölkerung, um die 65 bis 70 %, den Krieg entweder aktiv oder passiv unterstützt. Dann gibt es noch etwa 10 %, die den Krieg vehement ablehnen. Die anderen 20 % interessieren sich überhaupt nicht für den Krieg. Unter diesen Umständen kann weder von einer Demokratisierung noch von einem potenziellen Partnerland, das man nach einem für die Ukraine siegreichen Ende des Krieges in die Staatengemeinschaft einbinden könnte, gesprochen werden.
Alles, was gerade passiert, ist in vielerlei Hinsicht vielleicht erst der Anfang von der eigentlichen Tragödie, die irgendwann Russland erreichen wird. In diesem Kontext schätze ich es als sehr wahrscheinlich ein, dass Russland als heutiges Staatsgebilde den Krieg nicht übersteht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass gewisse Territorien Russlands abtrünnig werden, so wie zum Beispiel Tschetschenien. Dort fehlt in jeder Familie schon fast ein Mann. Nach all dem glaube ich nicht, dass der Wunsch, ein Teil von Russland zu sein, in dieser Region noch sehr hoch ist. Insofern ist auch das eine tickende Zeitbombe.
Ausserdem gibt es die innenpolitischen Zerwürfnisse in Russland, die Korruption, die Verbrechen, den Nepotismus. Das alles muss auch irgendwann der Gesellschaft offenbart und auch strafrechtlich verfolgt werden. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass eine solche Transition in Russland höchstwahrscheinlich keine friedliche sein wird. Die aktuellen Machthaber würden ihre Macht niemals freiwillig aufgeben, weil es für sie – ganz buchstäblich genommen – eine Frage von Leben und Tod ist. Tod muss nicht unbedingt heissen, dass sie erschossen werden, aber sie würden auf jeden Fall ihre Freiheit für immer verlieren, was faktisch das Gleiche für sie bedeuten würde. Insofern glaube ich, dass das Schlimmste für Russland noch bevorsteht. Erst wenn die aktuelle politische Elite entmachtet ist, können wir zu der Fragen zurückkommen, ob wir das zukünftige Russland auf einen demokratischen Entwicklungspfad bringen können. Der momentan grösste Unterschied zum Deutschland der Nachkriegszeit ist, wie gesagt, dass es für Russland noch ein sehr weiter Weg bis hin zur Einsicht der eigenen Schuld ist.
Bei der Verfolgung der Geschehnisse in der Ukraine empfinden viele Menschen in der westlichen Welt oftmals ein starkes Hilfsbedürfnis. Ihnen ist aber nicht klar, wie sie zielgerichtet helfen können. Was wäre Ihr Rat an diese Menschen? Was ist die eine Sache, die die Menschen in westlichen Ländern tun können, um der Ukraine effektiv zu helfen?
Ich würde sagen, humanitäre Hilfe zu leisten ist immer gut. Dabei ist die Plattform, die ich bereits angesprochen habe, sehr hilfreich. Man kann auch über andere Plattformen aktiv werden, aber ich würde eher United24 empfehlen, weil diese Plattform sehr gut vernetzt und professionell ist. Zudem würde ich sagen, dass es wichtig ist, in seinem Heimatland für die politische und militärische Unterstützung der Ukraine zu werben, damit diese nicht nachlässt. Man sollte sich ausführlich informieren und darf sich niemals der Illusion hingeben, dass man mit dem gegenwärtigen russischen Regime irgendwie verhandeln kann, geschweige denn, dass mit dem Regime ein nachhaltiger Frieden in Europa geschaffen werden kann. Das ist leider nicht der Fall.
Herr Rodnyansky, was macht Ihnen dieser Tage Hoffnung?
Schöne Abschlussfrage. Ich verliere die Hoffnung nicht, weil ich sehe, wie stark wir als Gesellschaft und als Land durch unseren Willen und unsere moralische Kraft sind. Die weit verbreitete Bereitschaft, für das weiterzukämpfen, an was wir glauben, macht mir Hoffnung. Wir werden tagtäglich Zeuge der Erfolge unserer Armee und unserer politischen Führung. Wir sehen, wie gut wir innerhalb des Landes politisch zusammenwirken können und wie geeint wir sind.
Herr Rodnyansky, vielen Dank für das Gespräch!