- Begabten- und Exzellenzförderung: eine Positionsbestimmung
Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten (oder, wie im Fall der Studienstiftung des deutschen Volkes: wiedergegründeten) Begabtenförderungswerke verbindet, dass sie kompetenz- und persönlichkeitsbezogene Kriterien gleichermaßen in ihre Auswahl- und Förderarbeit einbeziehen: gefördert wird, wer eine herausragende wissenschaftliche oder künstlerische Begabung im Bereich des eigenen Studienfaches mit der Motivation verbindet, diese Begabung auch wirksam werden zu lassen – im eigenen Fach und über die Grenzen des eigenen Faches und des persönlichen Lebensumfeldes hinaus. Aufgabe der Förderung selbst ist es, die im Auswahlprozess identifizierten Potentiale und Anlagen bestmöglich weiterzuentwickeln – durch Anregungen und Vertiefungsmöglichkeiten auf fachlicher Ebene ebenso wie durch die Stärkung der allgemeinen Urteils- und Entscheidungskompetenz und Verantwortungsbereitschaft der Geförderten.
Wesentlich für Begabtenförderung ist dabei erstens eine explizite Orientierung an einem demokratisch fundierten, wertegebunden Pluralismus, ihr ideelles Ziel ist somit die „Bildung zur Pluralität“ – durch die Konfrontation mit konträren Perspektiven, konkurrierenden Wertehaltungen und unterschiedlichen Biografien und Lebensentwürfen. Diese Zielrichtung spiegelt sich auch in der pluralen, nicht-staatlichen Trägerschaft der unterschiedlichen Begabtenförderungswerke selbst und ist letztendlich ein Gegenentwurf zu den „gleichgeschalteten Eliten“ in der Zeit des Nationalsozialismus, als Deutschlands Intellektuelle und Führungspersönlichkeiten dem Totalitarismus nicht nur (zu) wenig entgegengesetzt haben, sondern ihn fast flächendeckend begrüßten.
Zweitens und hiermit zusammenhängend ist Begabtenförderung wesentlich auf einzelne Personen und deren Entwicklung ausgerichtet: Schon in der Aufnahme in ein Begabtenförderungswerk steckt die Aufforderung und Ermutigung, sich der eigenen Potentiale bewusst zu werden und sie zur Entfaltung zu bringen, aber auch das eigene Verhältnis zu Leistungsorientierung als Teil der Persönlichkeit kritisch und realistisch zu reflektieren. Die Förderung bestärkt und unterstützt Stipendiaten darin, sich Ziele zu stecken, die über den Tag und über die eigenen persönlichen Belange hinaus reichen, und diese Ziele dann auch engagiert zu verfolgen. Bestärkt werden Stipendiaten und Stipendiatinnen zudem darin, ihre eigene Urteilskraft zu entwickeln und am Ende eigenständige, von der Förderorganisation nicht vorgegebene, (selbst)kritische Urteile zu fällen. Anders als in vielen anderen Ländern, ist Begabtenförderung daher auch nicht mit bestimmten Hochschulen oder gar Ausbildungsgängen verknüpft und orientiert auch nicht einseitig auf eingespielte Aufstiegsmuster oder Karrierewege.
Begabtenförderung unterscheidet sich daher auch substantiell von neueren Ansätzen in der Forschungs- und Bildungspolitik wie etwa der Exzellenzinitiative: So hat die „Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen“ ebenso wie die seit ca. zehn Jahren geführte Diskussion über „Brain Drain“ in der Öffentlichkeit zwar eine gewisse Akzeptanz dafür geschaffen, dass Förderung und dauerhafte Bindung von Nachwuchstalenten von hohem öffentlichen Interesse ist – eine Akzeptanz, von der auch die Begabtenförderung profitiert. Auf der anderen Seite ist die Exzellenzinitiative aber auf den Wirkungsbereich der Forschung beschränkt, für den sich in der Regel auch leichter überprüfbare Ziele definieren lassen als für eine auf das Individuum und seine Potentiale orientierte, ergebnisoffene Begabtenförderung. Vor allem aber geht es in der Exzellenzinitiative eben nicht in erster Linie um die Förderung von Personen, sondern vor allem um die strukturelle Stärkung und Profilierung von Institutionen sowie die Bündelung von Ressourcen zur Erforschung und Bearbeitung als relevant erkannter, übergreifender Fragestellungen.
Mit der hier vorgenommenen Abgrenzung soll weder Notwendigkeit und Wirksamkeit dieser Art von Ressourcenbündelung in Zweifel gezogen noch die prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden Fördersysteme postuliert werden. Natürlich studieren zahlreiche Geförderte, etwa der Studienstiftung, an DFG-geförderten und -ausgezeichneten Hochschulen oder Fachbereichen, während andere Stipendiatinnen und Stipendiaten sich aus ebenfalls guten Gründen für Fächer oder Fachbereiche entscheiden, die sich nicht in den neu entstandenen Strukturen staatlich-institutioneller Förderung wiederfinden, sei es, weil sie schlicht zu klein sind, sei es, weil sie Fragestellungen nachgehen, die (noch) nicht im Mainstream der Forschung angekommen sind oder weil sie besondere Stärken in der Lehre oder ihrer internationalen Vernetzung aufweisen – Stärken also, die für die forschungsbezogenen Wettbewerbe keine Rolle spielen. Ausdrücklich gefördert wird mithin ein interessengeleitetes, autonom gestaltetes breites Studium.
Eine auf einem umfassenden Bildungsbegriff aufbauende Begabtenförderung ist mithin weitaus mehr als eine bloße Komplementärstrategie zu den projekt- und institutionenbezogenen, zentral gesteuerten Förderprogrammen des Bundes. Insofern kann sie auch nicht darauf zählen, dass ihre eigene Rolle und Relevanz, gewissermaßen im Windschatten von Exzellenzinitiative und Forschungsförderung, bereits hinreichend plausibilisiert ist. Vielmehr muss sie ihre eigenen, übergreifenderen Ziele – mit Blick auf das Gemeinwohl und eine lebendige, leistungsfähige Demokratie – klar formulieren und sich an ihnen messen lassen. Erste Schritte in diese Richtung hat die Studienstiftung mit der von ihr in Auftrag gegebenen Evaluation ihrer Auswahlverfahren gemacht, die u.a. Studien- und Abschlussnoten, Qualität des Berufseinstiegs, Häufigkeit von sozialem Engagement u.a.m. von Geförderten und Alumni der Studienstiftung mit denen abgelehnter Bewerber und der Gesamtheit der Studierenden vergleicht.
Gerade weil Begabtenförderung aber so zentral auf die einzelne Person und deren individuelle Gestaltungsfähigkeit setzt, sind Notenstatistiken, Promotionsquoten, Preise und Auszeichnungen sowie weitere quantitativ zu erfassende Daten immer nur Teil-Indikatoren für die Validität der Auswahl und die Wirksamkeit der Förderung. Wichtig sind darüber hinaus überzeugende und vielfältige Werdegänge von Geförderten und Alumni, die den oben genannten Ansprüchen nachvollziehbar gerecht werden. Wer Pluralität und die individuelle Persönlichkeit in den Mittelpunkt des Förderhandelns stellt, dessen Glaubwürdigkeit hängt nicht zuletzt davon ab, dass die eigenen Auswahlverfahren fair und offen für Talente und Begabungen aus allen Teilen der Bevölkerung sind. Ob die Studienstiftung des deutschen Volkes diesem Anspruch gerecht wird oder auch nur gerecht werden kann, hat in den vergangenen rund fünf Jahren wie wenige andere Fragen die Debatte über Anspruch und Voraussetzungen der eigenen Arbeit bestimmt.
2 Begabtenförderung und Chancengerechtigkeit
Den Zusammenhang zwischen der sozio-ökonomischen Herkunft von Studierenden und den Chancen für ihre Aufnahme in die eigene Förderung hat die Studienstiftung 2007/2008 mit einer Analyse zum sozialen Profil der Stipendiaten erstmals systematisch untersucht. Diese ergab u.a., dass 79% der Geförderten mindestens ein Elternteil mit einem akademischen Abschluss hatten, wodurch sich die Stipendiatinnen und Stipendiaten der Studienstiftung deutlich vom Durchschnitt der Studierenden an deutschen Hochschulen unterscheiden, von denen lediglich 49% aus einem „Akademikerhaushalt“ stammen.
2009 legte das Hochschulinformationssystem (HIS) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine Analyse des sozialen Profils aller Begabtenförderungswerke vor, aus der hervorging, dass einerseits auch in den anderen Werken mit im Mittel 66% ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Geförderten aus Akademikerelternhäusern stammt, von dem wiederum u.a. die Studienstiftung mit dem oben zitierten Anteil von 80% Akademikerkindern noch einmal besonders deutlich abwich.
Die Interpretation dieser Ergebnisse sorgte sowohl studienstiftungsintern wie in der Öffentlichkeit für Kontroversen: Die ungleichgewichtige Repräsentanz unterschiedlicher sozio-ökonomischer Gruppen in der Studienstiftung sei (ausschließlich) ein Resultat von Selektions- und Benachteiligungsprozessen in viel früheren Bildungsstadien, für die die Studienstiftung nicht verantwortlich gemacht werden und die sie auch nicht ausgleichen könne – argumentierten die einen. Das Auswahl- und Vorschlagssystem der Studienstiftung selbst und insbesondere die Tatsache, dass „weiche“, persönlichkeitsbezogene Kriterien in den Auswahlverfahren eine Rolle spielen, verstärke die ohnehin herrschenden Ungerechtigkeiten im Bildungssystem und sorge dafür, dass „das deutsche Bildungsbürgertum sich selbst reproduziere“ – so die anderen. „Je mehr Persönlichkeit einfließt, desto ungerechter wird das Verfahren“ fasste der Soziologe Michael Hartmann diese Position zuletzt kurz und knapp zusammen.
Träfe dieser Vorwurf in der hier formulierten Absolutheit zu, wäre der die Studienstiftung seit ihrer Gründung prägende Anspruch in Frage gestellt, Individualförderung mit Werte- und Gemeinwohlorientierung zu verbinden. Eben weil nicht nur Leistung, sondern auch „Initiative“ und „Verantwortung“ explizite Erwartungen an die Geförderten sind, nennt schon das Ergebnisprotokoll des „Zentralen Arbeitsausschusses“ der Studienstiftung von 1925 als zentrale Auswahlkriterien sowohl die „Tatsache ausnahmsweiser wissenschaftlicher Begabung und Tüchtigkeit“ als auch „menschliche Bewährung sowie charakterliche Eignung“. Und in der aktuellen Satzung der Studienstiftung heißt es: „Die Studienstiftung fördert die Hochschulbildung junger Menschen, deren hohe wissenschaftliche oder künstlerische Begabung und deren Persönlichkeit besondere Leistungen im Dienste der Allgemeinheit erwarten lassen.“
Für die Studienstiftung war es mithin keine Alternative, ihre Ansprüche an Persönlichkeit und Engagement ihrer Stipendiaten aufzugeben. Sie hat sich stattdessen in den vergangenen Jahren intensiv mit der Frage der Chancengerechtigkeit auseinandersetzt und dieses Anliegen systematisch in die eigene Arbeit integriert: Neu eingeführt wurden u.a. die Möglichkeit der Selbstbewerbung, ein stipendiatisches „Botschafterprogramm“ ins Leben gerufen und die vorschlagsberechtigten Schulen und Hochschulen ebenso wie ihre Kommissionsmitglieder intensiv auf Grenzen und Möglichkeiten sozialer Herkunft sensibilisiert. Heute liegt der Anteil von Erstakademikern in der Studienstiftung bei knapp 30%, Stipendiatinnen und Stipendiaten mit Migrationshintergrund machen rund 15% der Geförderten aus, womit dieser Anteil in beiden Fällen inzwischen höher ist als derjenige unter den Abiturbesten. Auch die o.a. umfassende Evaluation von 2012 bestätigte in eindrucksvoller Weise die Validität, Reliabilität und Fairness der Auswahlverfahren.
All dies bedeutet ausdrücklich nicht, dass die Studienstiftung ihre Ansprüche an das Kriterium „Leistung“ relativiert hat. Im Gegenteil: Erst indem zusätzlich zum aktuellen Leistungsstand die Wegstrecke berücksichtigt wird, die zum Erreichen desselben zurückgelegt wurde, können Potentiale realistisch eingeschätzt und so der Auftrag erfüllt werden, Menschen zu entdecken und zu fördern, die einen herausragenden Beitrag für unsere Gesellschaft zu leisten versprechen.
Trotz dieser Erfolge bleibt noch viel zu tun: Dass Begabtenförderungswerke existieren und welche Chancen sie jungen Menschen bieten, ist noch zu vielen Menschen unbekannt – daran können und sollten wir etwas ändern. Den oben aufgezeigten engen Zusammenhang zwischen Elternhaus und Bildungserfolg in Deutschland aufzubrechen, ist nicht zuletzt eine Aufgabe, die Begabtenförderung ihren eigenen Geförderten antragen kann und sollte: Als langfristige Zukunftsaufgabe, die es an unterschiedlichsten Stellen in der Gesellschaft zu gestalten und voranzubringen gilt, aber auch als unmittelbares Handlungsfeld während der Förderzeit.
Ein bislang noch vernachlässigtes Potential für Begabtenförderung in Deutschland stellt schließlich die Gruppe der „Bildungsausländer“ dar, also derjenigen ausländischen Studierenden, die erst zum Studium nach Deutschland kommen. Ihr Anteil an deutschen Hochschulen hat sich seit Anfang der neunziger Jahre von rund 4% auf ca. 8% mehr als verdoppelt, einen weiteren Anstieg auf mindestens 20% innerhalb der nächsten fünf Jahre forderte kürzlich der „Aktionsrat Bildung“. Diesen Studierenden, auch wenn sie von außerhalb der EU kommen, formal den Zugang zu den Begabtenförderungswerken zu eröffnen, wäre ein wichtiges Willkommenssignal für die jungen Menschen selbst und dürfte ihre Bindung an Deutschland verstärken; umgekehrt trüge diese Gruppe dazu bei, dass sich die Begabtenförderungswerke und deren Bildungsarbeit auch im Inland internationalisieren.
3 Fazit
Herausragend begabte junge Menschen zu Eigensinnigkeit und Gemeinsinn zu ermutigen und dabei ihre Offenheit auch für alternative Lebensentwürfe und Denkmodelle zu fördern – das sind Kernziele von Begabtenförderung, die damit über die Lösung konkreter Problem- und Fragestellungen hinaus auf die Zukunftsfähigkeit und Festigung einer solidarisch und plural verfassten Demokratie zielt. Um selbst zukunfts- und in dieser Demokratie zustimmungsfähig zu bleiben, sind faire, auf Diversität ausgerichtete Zugangswege ein Schlüssel. Nicht zuletzt müssen wir auf die Geförderten selbst setzen, darauf, dass sie sich auf dem Gebiet der Bildungs- und Zugangsgerechtigkeit nicht mit dem Status quo abfinden, sondern sich auf die ihnen eigene Weise für eine nächste Generation engagieren.