Herr Prof. Herr Kolev, als Leiter des Ludwig-Erhard-Forums setzen Sie sich für eine Erneuerung des Liberalismus ein. Der Liberalismus hat seine historischen Wurzeln zwar in Westeuropa und Nordamerika, wird aber auch heute noch oft als ein rein westliches Phänomen angesehen – woran könnte das liegen?
Ich möchte dieser Ansicht widersprechen. Der Liberalismus ist seinem Wesen nach eine universelle Idee und keineswegs auf den Westen beschränkt. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass es um das Jahr 1935 herum nur noch wenige liberale Demokratien gab. In den vergangenen 50 Jahren hat es jedoch eine bemerkenswerte Ausweitung liberaler Staatlichkeit gegeben, die sich in verschiedenen Demokratieindizes messen lässt. Man denke nur an die Entwicklungen in Osteuropa und Südeuropa seit den 1970er Jahren, wo viele Diktaturen durch demokratische Systeme abgelöst wurden. Auch in Lateinamerika gab es Länder, die hin zur liberalen Demokratie schwankten, und auch in Afrika sehen wir Beispiele wie Botswana, wo liberale Rechtsstaatlichkeit zu wirtschaftlichem Erfolg beigetragen hat. Ein weiteres Beispiel ist der Aufstieg von Singapur und Hongkong, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch liberale Wirtschaftspolitik erfolgreich wurden, auch wenn diese Länder gesellschaftlich nicht immer so liberal sind, wie wir es uns vielleicht wünschen. Besonders interessant ist Indien, das als größte Demokratie der Welt eine Schlüsselrolle spielt. Es ist meine Hoffnung, dass Indien sich weiterhin den westlichen Werten verpflichtet fühlt, gerade in einer Welt, die sich zunehmend in Blöcke aufteilt. Es wäre also falsch zu behaupten, dass politischer Liberalismus ein rein westliches Phänomen ist. Wenn man die Entwicklungen in verschiedenen Ländern genauer betrachtet, sieht man, dass es immer wieder ein Pendeln zwischen liberalen und anderen politischen Systemen gab. Diese Bewegung ist ein globales Phänomen, das sich in vielen Teilen der Welt beobachten lässt. Am aktuellen Rand, also in den vergangenen 15 Jahren, schwingt das Pendel in manchen Regionen in eine illiberale Richtung, was auch von mächtigen Staaten wie China und Russland angetrieben wird. Aber sich davon entmutigen zu lassen oder gar vom Niedergang der liberalen Demokratie zu sprechen, ist meines Erachtens die völlig falsche Reaktion – zumal für die heutigen Studierenden, die qua Lebensalter den Luxus genießen sollten, die lange Frist im Auge zu behalten.
Liberalismus ist aktuell vor allem da stark auf der Welt, wo ein hoher Grad an Demokratie herrscht. Wie kann der Liberalismus sich in Gesellschaften verbreiten, die keine starke demokratische Basis haben?
Zu Beginn würde ich gern etwas zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratie festhalten – Liberalismus war der Demokratie in der Vergangenheit zeitlich voraus. Der Liberalismus hat sich historisch gesehen oft in Gesellschaften entwickelt, die noch keine ausgeprägten demokratischen Strukturen besaßen. Dies zeigt sich besonders deutlich im 19. Jahrhundert, als in vielen Monarchien, wie beispielsweise in Preußen, bereits liberale Prinzipien in Gesellschaft und Wirtschaft etabliert wurden, obwohl diese Länder politisch noch nicht demokratisch waren. Der Liberalismus kann als Grundlage der Demokratie betrachtet werden, da er zentrale Werte wie individuelle Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz fördert, die für die Entwicklung einer Demokratie unerlässlich sind. Um den Liberalismus in Gesellschaften zu verbreiten, die keine starke demokratische Basis haben, ist es zunächst wichtig, diese grundlegenden Werte zu etablieren. Ein zentraler Aspekt hierbei ist die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dies erfordert die Überwindung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, die auf Privilegien, Diskriminierung und Ungleichheit basieren. Die historische Entwicklung in Europa zeigt, dass solche Veränderungen schrittweise erfolgen und oft von intellektuellen Bewegungen wie der Aufklärung vorangetrieben werden müssen. Es ist daher notwendig, diese Prinzipien durch Bildung und Aufklärung in nicht-demokratischen Gesellschaften zu verbreiten. Erst wenn die Ideen von individueller Freiheit und Gleichheit verankert sind, können demokratische Strukturen nachhaltig aufgebaut werden. Der Liberalismus bietet somit einen entscheidenden Ausgangspunkt für die Demokratisierung und die Verteidigung demokratischer Prinzipien auf globaler Ebene.
In Deutschland wird Liberalismus häufig auf Wirtschaftsliberalismus und hedonistischen Konsumismus reduziert. Worauf könnte diese Ablehnung beruhen?
Der Liberalismus hatte es in Mitteleuropa nie leicht. Die Vorstellung, dass es in den letzten hundert Jahren goldene Zeiten für den Liberalismus gegeben habe, wäre falsch. Bereits im 19. Jahrhundert war der Liberalismus stets gespalten, insbesondere in Bezug auf seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung. Diese Spaltung, die heute häufig in die Kategorien sozialliberal und wirtschaftsliberal unterteilt wird, hat den Liberalismus erheblich geschwächt, obwohl er als einzige politische Idee universelle Gültigkeit beanspruchen kann – unabhängig von Klasse, Ethnie oder anderen sozialen Faktoren. Es ist bedauerlich, dass diese ideologische Spaltung anhält, da sie eine ohnehin kleine Gruppe noch weiter fragmentiert. Besonders am Begriff des Neoliberalismus, der ursprünglich in den 1930er Jahren als Reaktion auf die Notwendigkeit einer Neuordnung und Einbettung des Kapitalismus entstand, zeigt sich diese Fragmentierung. Die ursprünglichen Neoliberalen wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow verstanden sich als Befürworter einer Sozialen Marktwirtschaft, die den Kapitalismus ordnen und einrahmen sollte – eine Haltung, die im Gegensatz zu dem steht, was heute oft unter dem Begriff „Neoliberalismus“ verstanden wird. Man kann „Neoliberalismus“ aber auch anders verstehen: Für jede Generation wurde es demnach bedeuten, dass sie ihren eigenen Liberalismus entwickeln und an die spezifischen Herausforderungen ihrer Zeit anpassen muss. Jede Generation steht somit vor der Aufgabe, die liberale Doktrin in neuen institutionellen, kulturellen und technologischen Kontexten zu übersetzen und zu verankern. Dies erfordert Mut, Kreativität und die Bereitschaft, alte Konzepte neu zu interpretieren, um die Relevanz und Attraktivität des Liberalismus zu erhalten. Eine bloße Rückbesinnung auf „klassisch-liberale“ Werte, ohne sie an die heutigen Gegebenheiten anzupassen, führt zu Denkfaulheit und einer Sprache, die nicht mehr zeitgemäß ist. Daher ist es entscheidend, dass jede Generation eine neue, sensible Sprache findet, um den Liberalismus lebendig und relevant zu halten.
Wie interpretieren Sie aus ordoliberaler Perspektive die Rolle des Liberalismus in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und Gleichheit?
Dafür wäre es zunächst unerlässlich, zunächst den historischen Kontext zu verstehen. Der Ordoliberalismus, als deutsche Ausprägung des Neoliberalismus der 1930er Jahre, entwickelte sich erstmal vor allem in Freiburg im Breisgau parallel zu anderen liberalen Strömungen in Städten wie Chicago, London, Wien und Genf. Die Ordoliberalen verfolgten das Ziel, den Kapitalismus zu ordnen und in einen stabilen Ordnungsrahmen einzubetten, der sowohl Freiheit als auch Verantwortung gewährleistet. In Deutschland hatten diese Ideen durch das politische Unternehmertum von Ludwig Erhard die Möglichkeit, in der Nachkriegszeit politisch wirksam zu werden, was zur Entstehung und Verstetigung der Sozialen Marktwirtschaft führte. Wenn wir über soziale Gerechtigkeit und Gleichheit sprechen, so gibt es aus ordoliberaler Sicht keinen Gegensatz zwischen liberalen Prinzipien und dem Streben nach Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein universeller Wert, den auch Liberale vertreten. Allerdings sollte man zwischen Verfahrensgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit unterscheiden. Verfahrensgerechtigkeit, das zentrale Anliegen der Ordoliberalen, bedeutet, dass die Verfahren, durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen erreicht werden, fair und transparent sein müssen. Diese prozedurale Sicht auf Gerechtigkeit legt den Fokus auf Chancengleichheit und den fairen Zugang zu gesellschaftlichen Positionen, nicht auf eine zwanghafte Gleichmacherei der Ergebnisse. Gleichheit wird im Ordoliberalismus primär als Gleichbehandlung verstanden, nicht als Ergebnisgleichheit. Es geht darum, dass jeder, unabhängig von Herkunft oder Status, die gleichen Chancen erhält, seine Ziele zu verfolgen. Dabei wird anerkannt, dass bestimmte individuelle Unterschiede, wie etwa bei körperlichen Fähigkeiten, besondere Maßnahmen erfordern, um gerechte Startchancen zu gewährleisten. In der modernen Gesellschaft, die durch Anonymität und Entfremdung gekennzeichnet ist, stellt der Ordoliberalismus die Frage, wie eine Balance zwischen individuellen Freiheiten und sozialen Bindungen gefunden werden kann, oder auch zwischen der abstrakten Gesellschaft und der konkreten Gemeinschaft. Globalisierung und Digitalisierung haben diese Spannung noch verstärkt, da sie einerseits die Gesellschaft weiter anonymisieren, andererseits aber durch Phänomene wie Echokammern wieder neue, enge Gemeinschaften schaffen. Der Ordoliberalismus versucht hier, eine Ordnung zu schaffen, die beiden Aspekten gerecht wird, ohne die sozialen Strukturen zu zerstören oder die Freiheit des Individuums zu untergraben. Abschließend lässt sich also sagen, dass der Ordoliberalismus sehr wohl ein Konzept von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit hat, das jedoch auf der Prüfung von dynamischen Prozessen und Verfahren basiert, die faire und gleiche Chancen gewährleisten, anstatt auf einer statischen Verteilung von Gütern oder Positionen. Diese Sichtweise fordert Respekt und Verständnis für unterschiedliche Konzepte von Gleichheit und Gerechtigkeit, anstatt Liberalen diese Werte abzusprechen. Das gilt übrigens genauso für Friedrich August von Hayek, einen Denker, mit dem ich mich länger historisch befasse und der – bei allen Unterschieden in Feinheiten – als wichtiger Weggefährte der Ordoliberalen interpretiert werden kann.
Können die zunehmenden Trends der Polarisierung, Nationalismus und Autoritarismus umgekehrt werden oder überschreiten diese Themen die Belastungsgrenzen der politisch liberalen Parteien?
Als langjähriges Mitglied der FDP sehe ich den Liberalismus nicht allein an das Schicksal dieser Partei gebunden, sondern an das Schicksal der politischen Mitte insgesamt. Diese Mitte ist von zentraler Bedeutung für den Fortbestand des Liberalismus, da sie den Raum für Freiheit und Kompromisse bietet. Historisch betrachtet, war die Mitte einst ein heterogenes Feld, das sowohl Mitte-rechts als auch Mitte-links politische Kräfte beheimatete. Diese Heterogenität ermöglichte einen regen und fruchtbaren Diskurs über die unterschiedlichen Ausprägungen von Freiheit und Gerechtigkeit. In den letzten Jahren jedoch hat sich die Mitte zunehmend homogenisiert und damit auch für junge Menschen, die sich gerade politisieren, an Relevanz und Attraktivität verloren. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die Ränder, meist lauter und radikaler, zunehmend die politischen Debatten dominieren. Ein entscheidender Schritt zur Überwindung der gegenwärtigen Herausforderungen besteht daher darin, die Mitte wieder zu einem spannenden und streitbaren, also auch spannungsreichen, Raum zu machen. Dies erfordert die Wiederbelebung von Debatten innerhalb der Mitte, in denen unterschiedliche Perspektiven zur Freiheit und zur Ausgestaltung der Gesellschaft aufeinandertreffen und wo um Kompromisse gerungen wird. Dabei geht es nicht um Konsens, sondern um die Fähigkeit der Mitte, tragfähige Kompromisse zu erzielen, die den politischen Diskurs beleben und die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft stärken. Nach dem Kompromiss verschwinden die Unterschiede nicht, sondern es beginnt die Aushandlung des nächsten Kompromisses. Die entscheidenden Themen, an denen sich das Schicksal der Mitte und damit auch das des Liberalismus entscheidet, sind aus meiner Sicht Wirtschaft, Ukraine und Migration. Insbesondere in den Bereichen Ukraine und Migration ist eine leise Politik gefragt, die vor allem auf konkrete Handlungsschritte setzt. Die Wirtschaft hingegen sollte ein Raum der lautstarken und kontroversen Diskussion sein, da hier unterschiedliche Interessen und Vorstellungen aufeinandertreffen. Wenn die Mitte es schafft, in diesen drei zentralen Bereichen klare Positionen zu beziehen, Debatten zu führen und aus Fehlern zu lernen, kann sie ihre Relevanz und Attraktivität zurückgewinnen. Dies steht im Gegensatz zu den radikalen Kräften an den politischen Rändern, die nicht nur das bestehende System und dessen Reformierbarkeit infrage stellen, sondern oft nach revolutionären Veränderungen streben. Während die Mitte an eine inkrementelle Verbesserung des Systems glaubt, etwa durch schrittweise Reformen und stetige Anpassungen, wollen die extremen Kräfte häufig eine gänzlich neue Ordnung etablieren, die oft auf radikalen Gleichheits- oder Hierarchievorstellungen basiert. In diesem Sinne lässt sich auch die sogenannte „Hufeisenhypthese“ anführen, die besagt, dass die extremen Ränder des politischen Spektrums oft mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie zugeben. Sie eint der Hass auf die Mitte und die Überzeugung, dass die gegenwärtige Ordnung revolutionär überwunden werden muss – ohne dass sie es explizit so proklamieren müssen. Insofern ist es entscheidend, dass der Liberalismus als Teil der Mitte gestärkt wird, um die Herausforderungen der Gegenwart – Polarisierung, Nationalismus und Autoritarismus – erfolgreich zu bewältigen.
Kann im Superwahljahr 2024 eine Chance für eine Neubelebung des Liberalismus im politischen Westen gesehen werden und welche Rolle sehen Sie für die politische Mitte und deren strategische Ausrichtung in der heutigen liberalen Demokratie?
Im Superwahljahr 2024 könnte sich tatsächlich eine bedeutsame Chance für eine Neubelebung des Liberalismus im politischen Westen bieten. Dies hängt jedoch entscheidend von der strategischen Ausrichtung und der Stärkung der politischen Mitte ab, die als Fundament der liberalen Demokratie fungiert. Der Liberalismus, verstanden als die politische Theorie der Freiheit, ist eng mit den ökonomischen Prozessen und den institutionellen Strukturen des Westens verknüpft. Der Westen, als Konzept und als politischer Raum, steht dabei im Mittelpunkt. Es handelt sich um eine offene Idee, die nicht geografisch begrenzt ist, sondern auf den Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft beruht. Jedes Land, unabhängig von seiner aktuellen politischen Ausrichtung, kann Teil dieses Westens werden, indem es diese Werte übernimmt und in die Praxis umsetzt. Dies ist besonders relevant in einer Zeit, in der autoritäre Regime wie China, Russland und Iran als Gegenentwürfe zur westlichen Ordnung agieren und sich explizit als solche verstehen. In den letzten Jahren, besonders durch den den russischen Überfall auf die Ukraine, ist die Bedeutung dieser westlichen Werte erneut in den Vordergrund gerückt. Die Bereitschaft, für diese Werte zu kämpfen, zeigt, dass der Westen trotz seiner historischen Fehler ein einzigartiges Modell darstellt, das sich kontinuierlich mit seiner eigenen Geschichte auseinandersetzt und aus dieser lernt, auch was die eigene koloniale Vergangenheit angeht. Diese Selbstreflexion und die Fähigkeit zur ständigen Reform sind zentrale Eigenschaften des Westens, die ihn von anderen politischen Systemen unterscheiden. Um den Liberalismus neu zu beleben und den Westen als attraktiven „Klub“ zu präsentieren, der offen für alle ist, die sich seinen Werten anschließen wollen, muss jedoch ein gemeinsames Verständnis und ein neues Selbstbewusstsein entwickelt werden. Trotz aller Krisen und Herausforderungen ist das Glas des Westens historisch betrachtet nicht nur halbvoll, sondern vielleicht sogar zu siebzig Prozent gefüllt. Es ist die Aufgabe der heutigen liberalen Demokratien und dabei vor allem der jungen Generation, diesen Erfolg weiterzuführen und den Westen als Modell für andere Länder attraktiv zu machen. Dies kann gelingen, indem die bestehenden Institutionen gestärkt und weiterentwickelt werden, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein und gleichzeitig neue Mitglieder in den westlichen „Klub“ einzuladen.