Bildung und Digitalisierung unter einen Hut zu bekommen, scheint für viele Schulen eine unüberwindbare Aufgabe zu sein. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch?
Das ist ganz einfach. Das komplette Bildungssystem basiert momentan immer noch auf dem Modell, welches während dem Übergang zwischen Agrar- und Industriegesellschaft entwickelt wurde – als Humboldt und ein paar andere zusammen sassen und sich gefragt haben, was wir bräuchten um gute Arbeiter für die Industrie zu produzieren. Dabei kam architekturmässig heraus, was wir jetzt als Schulgebäude kennen, nämlich zum einen lange Gänge und grosse Räume, zum anderen ein Lehrkörper, der darauf abzielt, bis zu einem gewissen Grad der Erkenntnis, Wissen von einem Kopf in möglichst viele andere Köpfe zu transferieren. Heutzutage besteht ein Mix aus den architektonischen Gegebenheiten von damals, kombiniert mit Massnahmen um die Digitalisierung voran zu treiben. Sprich, es muss mit Mitteln geübt werden, auf die online zurückgegriffen wird. Dazu braucht man jedoch schnelle Internetleitungen und Access Points. Nun geht es aber auch noch um die Inhalte, da wir gerade einen Wandel zum zweiten Maschinenzeitalter vollziehen. Beides ist nicht in ausreichendem Mass gegeben. Das heisst es ist grossflächig so viel kaputt, dass das Bildungssystem bezüglich der Architektur, der Inhalte und der Art wie gelehrt wird, komplett neu aufgezogen werden muss.
Das bedeutet die Architektur sehen Sie in diesem Zusammenhang nicht nur als Parallele zur Entwicklung in der Bildung, sondern auch an sich als Problemursache?
Die räumliche Gestaltung, ja. Man kann nicht sagen, man gibt dem toten Pferd die Sporen und schickst die Schüler aus der Architektur raus, rein in ein neues Arbeitsumfeld, wovon über 50% so aufgebaut sein wird wie die neuen Workspaces. Die Schüler müssen dann ihren Arbeitsalltag danach gestalten und sind nicht darauf vorbereitet. Das ist ein ganz wichtiges Thema, dass bei Digitalisierung unterschätzt wird. Viele denken nur daran, dass alles digital ist. Die Architektur spielt hingegen eine grosse Rolle und die jetzigen Schulen in ihrer Bauweise sind in dieser Hinsicht kontraproduktiv.
Als Speaker treten Sie auf zahlreichen Events auf und vertreten dabei ein völlig neues Konzept von Ausbildungsstätten. Wie sähe für Sie die perfekte Schule aus?
Die perfekte Schule ist ganz einfach zu definieren. Die gibt es nicht. Die Zukunft ist individuell und kreativ, d.h. wir müssen uns verabschieden von dem Gedanken „bisher war es so und nun haben wir diese eine neue Lösung“, sondern es wird an unterschiedlichsten Plätzen unterschiedliche neue Lösungen geben. Was man jedoch grob einfangen kann, ist: Die Architektur muss anders sein. Ich muss als Schüler Bock haben in das Gebäude zu gehen. 90% der Gebäude sind Kanister, die heruntergekommen sind. Richtige Kasernen, in die ich von vorneherein schon architektonisch keinen Bock habe rein zu gehen. Und wenn du überlegst, du schaust dir ein Google, Amazon oder Apple Zentrum an, ein Co- workingspace, da ist das völlig anders. Farblich, coole Räumlichkeiten, Mix aus Glas, trotzdem noch grosse Räume für Vorträge aber auch Rückzugsecken, Lounges. Das ist erst einmal das Grundsätzliche. Dies muss man kombinieren mit Menschen, die nicht mehr ein breites Grundwissen haben, sondern Experten, die ihr Fach leben und mit den Schülern problemorientiert denken. Derweil kannst du immer in kleinen Lerneinheiten in der Cloud auf Informationen zugreifen und dein Wissen verbessern.
Während viele Bereiche unseres Lebens mittlerweile online laufen, passiert Bildung grösstenteils offline. Warum ist das so? Und sollte in Zukunft der Schwerpunkt weiter offline liegen?
Ich sehe überhaupt keinen Drang in eine Richtung, online oder offline. Am Ende wissen wir ja gar nicht, wer wie am besten lernt. Aber Technologie wird es ermöglichen, dass individuell jeder herausfinden kann, wie er am besten lernt. D.h. der Eine kann am besten in der Live-Interaktion vor Ort mit einer oder zwei Personen lernen, der Nächste hat vielleicht die grössten Effekte mit einer Virtual Reality Brille. Dazu bedarf es aber erstmal neuer Konzepte. Um online effektiver zu lernen brauchst du noch mehr Content der digital aufgesetzt wird, z.B. in Videos, digitalen Skripten und digitalen Tests. Diese müssen aber unbedingt mit einer Data Science versehen werden, mit einer Software die tracked, wie erfolgreich du mit welchen Mitteln bist. Hier sollte online und offline kombiniert werden. Es handelt sich dann um Data tracking im positiven Sinne. Nicht dazu, um ein anderes Produkt zu verkaufen, sondern damit man erkennen kann, wo am besten gelernt wurde.
Ist es möglich durch Bildmaterial der Person, durch ihre Mimik und Gestik, psychologisch Rückschlüsse auf einen etwaigen Lernerfolg zu ziehen?
Wir sind im Bereich Face Recognition so weit, dass wir schon anhand der Pupillenerweiterung messbar machen können, ob du einen Lernerfolg hast oder nicht. Das kann aber auch das charmante Lächeln sein, dass ich dann meinem Gegenüber zuwende und welches in der Interaktion vor Ort stattfindet. Das sollte alles in einen Pool fliessen, um schliesslich sagen zu können: „Wir
haben dich nun einige Wochen verfolgt. Es ist Sonntag 17:00 Uhr, die beste Lernzeit. Der Kollege sitzt 20 Meter weiter, trefft euch, wir haben euch zwei Videos rausgesucht“.
Ob private Universitäten oder Nachhilfelehrer – kommerzielle Dienstleister im Bildungswesen erlangen immer mehr an Gewicht. Auch Sie sind mit Ihrem Unternehmen Study-Help in über 300 Städten vertreten. Ist das Konzept eines staatlichen Bildungswesens noch tragfähig?
Das ist eigentlich die heisseste Diskussion, denn wir kommen ja gerade in Deutschland bzw. Europa aus der Mentalität, «Wissen darf um Gottes Willen nichts kosten». Jetzt würde ich einmal die Frage stellen, wieso kostet das eigentlich nichts? Weil sich vor langer Zeit Leute zusammengesetzt haben, die sich überlegt haben, wie sie die besten Arbeiter ausbilden können. Das ist jetzt nicht nur nicht mehr zeitgemäss, sondern teilweise sogar bedrohlich für die eigene berufliche Zukunft. Es muss Leute geben, die neue Sachen umsetzten und eruieren, was unseren Nachwuchs in die Zukunft führen kann und das geht staatlich offensichtlich nicht. Es ist zu träge und es dauert zu lange, bis Innovationen umgesetzt werden. Daher werden aus der privaten Wirtschaft zwangsläufig neue Modelle kommen. Ich glaube die Politik täte gut daran, die Experten aus der freien Wirtschaft noch stärker mit einzubinden. Wir können nicht von heute auf morgen alle auf eine Privatschule schicken, es ist deshalb wichtig, dass unser aktuelles System einen Mindeststandard erfüllt. Nichts desto trotz würden hier soziale Probleme entstehen: Nicht jeder hat die Mittel für eine private Ausbildung. Und irgendwann kommt Amazon mit einer Null-Euro-Flat und baut einen Kindergarten. Dann wird aber rumgeheult, weil es ein amerikanischer Konzern ist. Ich glaube aus der privaten Wirtschaft wird es noch verstärkter Lösungen geben, welche irgendwann dazu führen, dass, leider Gottes, eine Revolte kommt, warum es überhaupt noch die Schulpflicht gibt.
Das mit der Schulpflicht ist eine gewagte These, können Sie das noch etwas vertiefen?
Die Frage ist, wieso wir überhaupt noch eine Schulpflicht haben. Es ist ja schon schlimm genug, etwas verpflichtend zu machen. Das hat den Anschein, ich muss etwas machen, obwohl ich gar keine Lust darauf habe. Es sollte so sein: «Ich habe richtig Bock irgendwo vor Ort oder Online mich aktiv weiterzubilden.» Dafür muss dann aber das Angebot stimmen, zeitgemäss sein und mir einen Ausblick auf meine Zukunft geben. Das macht es im Moment alles nicht. Dass es eine Schulpflicht gibt, ist meiner Meinung nach nicht mehr tragbar. Die Menschen gehen bisher noch nicht auf die Strasse, da es nicht genügend andere Angebote gibt. Die Angebote, die es grossflächig gibt, sind meistens für Institute, welche es dir ermöglichen den Abschluss in einem normalen System zu machen. Hier möchte ich die Brücke schlagen. Auch ich bin an einem Unternehmen beteiligt, dass es dir ermöglicht, in diesem System Abschlüsse zu machen. Ich bau in dieses System aber Dinge ein wie einen kostenlosen Programmierkurse für Kids und Lehrer. Das heisst, und das ist das Schwierige in Deutschland und Europa, du musst unternehmerisch tätig sein und mit dem System zurechtkommen, um Geld zu verdienen. Gleichzeitig versuchst du die Digitalisierung nach vorne zu treiben.
Ihre Tutorials auf YouTube, erfreuen sich grösster Beliebtheit. Dabei benutzen Sie eine analoge weisse Tafel – eigentlich so, wie es in Schulen auch gemacht wird. Wo liegt der Unterschied? Warum lernen so viele mit Ihren Videos besser?
Es ist nichts Verkehrtes daran auf schlichte Art und Weise, Wissen zu vermitteln. Bei der Wissensvermittlung geht es auch darum, dass es so clean wie möglich ist, ohne viel Action drum herum. Der Vorteil ist, dass du durch kleine „Lernhäppchen“ sog. Nuggets, die besten Impulse setzen kannst. Und schliesslich das grosse Gesamte erreichst. Ich habe einerseits die Mathematik kleinteilig gemacht und habe sie zeitgemäss auf einer Plattform dargestellt, Youtube, die alle nutzen. Das heisst ich sehe es, höre es und bekomme es dann noch gezeigt. Das alles in dem Tempo wie ich es brauche, strukturiert in Playlists. Es ist clean, nichts anderes drumherum, sondern nur die Tutorials in kurzer und knackiger Form über Youtube.
Sind YouTube oder andere soziale Netzwerke mögliche Fundamente für eine Bildungsrevolution?
Ja, es ist ganz einfach zu vergleichen: Der Fernsehapparat hatte auch die Chance für eine Bildungsrevolution. Jetzt wissen wir aber wo Fernsehen gelandet ist. Nämlich bei ARD, ZDF, WDR und danach RTL, RTL II, Kabel 1, noch zigtausend anderer Programme, auf denen nur Schrott kommt und Marketing gemacht wird. Wir sind an dem gleichen Punkt, das Internet ist für die Basis aber noch viel besser als das Fernsehen. Es ist ständig verfügbar. Jeder hat ein Smartphone in der Tasche und kann auf einen Knopfdruck sofort Wissen generieren. Wir haben riesen Chancen, dass alle ihr Wissen weitergeben. Wahrscheinlich wird es sich so einpendeln, dass grösstenteils Marketing betrieben wird und Sachen verkauft werden. Aber zumindest habe ich schon einmal eine wesentlich bessere Möglichkeit, unabhängig von Ort, Zeit und Vorgaben, Wissen zu erlangen mit wirklich kompetenten Tutoren zu arbeiten. Teilweise stellen MIT und Stanford komplette Vorlesungen zur Verfügung. Kombiniert mit Änderungen vor Ort, Personen wie mir, die mit YouTube gross geworden sind und neuen Thematiken, sehe ich enorm viel Potenzial. Darüber hinaus zu nennen ist „Social Entrepreneurship“. Wenn wir in Europa mehr Geld einsetzen würden, ein paar Millionen, dann könnten wir in die Thematik richtig Schwung reinkriegen.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wollen Sie kein online oder offline sondern ein hybrides Modell?
Genau, mit permanenten Möglichkeiten zur Individualisierung. Wir treffen uns zwar noch vor Ort, aber eben anders, nicht mehr zum Wissenstransfer, sondern zum Diskutieren. Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz brauchen wir ganz andere Skills. Sowohl Soft Skills als auch Hard Skills. Wir müssen diskutieren können, viel mehr Fragen stellen, viel mehr kritisch hinterfragen, viel mehr philosophisch herangehen und problemorientiert denken. Das können wir wunderbar vor Ort durchführen.
Inwiefern wird künstliche Intelligenz das Anforderungsprofil, das an uns gestellt wird, verändern? Woraufmüssen wir besser vorbereitet werden?
Wir sind an dem gleichen Umbruch wie damals von 1770 bis 1830. Erst kam die Dampfmaschine, dann kam die Transportation mittels der Eisenbahn, Öl, die Banken und schliesslich die Elektrizität. Die Elektrizität hat Industrien von Grund auf umgewälzt. Das ist vielleicht der einfachste Vergleich. Die künstliche Intelligenz ist jetzt an einem Punkt, an dem innerhalb kürzester Zeit, komplette Industrien völlig umgekrempelt werden. Das ist nicht nur meine Aussage, es gibt Studien von McKinsey und anderen, die sagen, dass 75% aller im S&P gelisteten Unternehmen in 10 Jahren weg sind, weil sie keine KI-Strategie haben. Wir müssen uns damit thematisch beschäftigen und müssen dem Nachwuchs beibringen, was für dramatische Auswirkungen es auf die Art wie wir arbeiten haben wird. Da gibt es zwar keine einfache Lösung, es muss aber oberthematisch festgehalten werden, wie Präsident Macron das in Frankreich macht, KI ist mein Top-of-the-Top.
Es geht vor allem darum den Nachwuchs für KI zu sensibilisieren, nicht mit einer Patentlösung aufzukommen?
Sensibilisieren, d.h. ab dem richtigen Zeitpunkt darüber diskutieren, die Welt zu nehmen wie sie ist. Spielerisch ans Programmieren, an die Robotik heranführen und aufzeigen welche Auswirkungen die künstliche Intelligenz hat. Welche Sachen werden automatisiert? Wo wird unser Leben dadurch einfacher? Wie können wir dadurch unseren Job später gestalten? Darüber schwebt: „Daten bzw. KI sind die neue Elektrizität“. Dafür brauchen wir eine übergeordnete Strategie und die haben wir nicht in Europa. Präsident Macron fängt in Frankreich damit an, Russland wahrscheinlich auch, derweil sind aber die USA auf der einen Seite und Asien, speziell China, auf der anderen Seite mit Trilliarden in der Forschung schon drin. Uns läuft die Zeit weg.
Mir ist aufgefallen, dass sich Leute oft verschliessen, weil sie kein Informatikstudium abgeschlossen haben. Was die meisten aber nicht beachten, ist, dass es nicht zwingend darauf ankommt den Algorithmus im Detail zu verstehen. Man muss aber wissen, was man damit alles anstellen kann.
Richtig, das ist so wie das vor 120 Jahren dem Agrarler gesagt wurde, du musst jetzt verstehen was die Dampfmaschine für Auswirkungen hat und was Maschinen machen. Bei der letzten Revolution haben uns Maschinen die Muskelkraft abgenommen, jetzt nehmen die Maschinen uns das Denken in gewissen Teilen ab. Das heisst wir müssen Prozesse völlig anders angehen. Wir müssen uns die Frage stellen, was KI noch nicht ergreifen kann. Und da bin ich, Gott sei Dank, noch nicht bei der Super-KI. Wir sind dann irgendwann bei Skynet aus Terminator. Das damit auch Gefahren einhergehen ist klar. Leute wie Elon Musk weisen darauf hin. Ein Wissenschaftler namens Toffler hat gesagt: „The greatest shortcoming of the human race is the misunderstanding of the exponential curve“. Die Menschheit versteht das exponentielle Wachstum nicht. Deshalb habe ich diese Kurve immer mit dabei und spreche diese auch an. Das ist das Einzige, was ich den Schülern und Studenten immer sage, ihr müsst verstehen, was die euch sagt. In immer kürzeren Zeitabschnitten passiert immer mehr. Das hat nichts mit Schnelligkeit zu tun, das hat mit einem Change-Prozess zu tun.
„We have to become exponential thinkers“
Letzte Frage: Welche Funktion hat für dich die heissesten Kurven?
(lacht) Die Exponentialfunktion!
Daniel Jung
Über 130.000.000 mal sind seine Videos bis jetzt gesehen worden; sie haben unzählige Schüler, Studenten und Auszubildende durch die verschiedensten Klausuren und Prüfungen gebracht. Unzählige Follower setzen in den Sozialen Netzwerken auf ihn als Vorreiter und folgen ihm in puncto Mathematik und auf seiner Reise in Richtung „digitale Bildung“. Das macht Daniel Jung zum erfolgreichsten Online-Educator weltweit. Er ist Entwickler von Online- und Offline-Kurssystemen und gleichzeitig Bestseller-Autor im Bereich Mathematik-Skripte.
Daniel wurde 1981 im nordrhein-westfälischen Remscheid geboren. Dort lebt er nach wie vor. Schon immer hat ihn das Thema Bildung (vor allem Mathematik als Grundlage für zukunftsträchtige Jobs) interessiert und wie man sie interessant transportiert. Mit den Erfahrungen aus dem Studiengang Mathematik an der Bergischen Universität Wuppertal sowie einem Sportstudium an der Deutschen Sporthochschule Köln und vor allem dem Selbststudium via YouTube hat sich Daniel dem Aufbau und der Entwicklung von Unternehmen und Konzepten im Bereich Lernen und Lehren im Zeitalter der Digitalisierung gewidmet.