Hallo Herr Diekmann. Wie haben Sie es geschafft, Chefredakteur bei BILD zu werden?
Das Ganze hat sich eigentlich nicht vorhersehen lassen, sondern ist einfach passiert. Meine Leidenschaft galt schon immer dem Geschichtenerzählen, und mein journalistischer Weg begann bereits mit einer Schülerzeitung. Diese Schülerzeitung wuchs schnell über ihre anfänglichen Grenzen hinaus und erreichte bald eine Auflage von 35.000 Exemplaren, verteilt auf verschiedene Städte, bis sie schließlich von der lokalen Tageszeitung übernommen und gedruckt wurde. Danach führte mich mein Weg zur Bundeswehr, wo ich weiterhin im Medienbereich tätig war und unter anderem für die Truppenzeitung ‘Bundeswehr aktuell’ arbeitete. Ursprünglich hatte ich eigentlich vor, Geschichte, Germanistik und Politik zu studieren und war dafür an der Universität Münster immatrikuliert. Doch als Axel Springer mir das Angebot machte, bei der ‘Bild am Sonntag’ in Hamburg eine journalistische Ausbildung zu absolvieren, zu machen, entschied ich mich schnell dafür. Das Volontariat war faszinierend; es fand in Hamburg und Bonn statt und ich durfte sogar in New York beim Springer Auslandsdienst arbeiten. Bald darauf erhielt ich mit gerade einmal 23 Jahren das Angebot, politischer Korrespondent in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn zu werden und wurde Ender der 90er Jahre schließlich Chefredakteur der ‘Welt am Sonntag’, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Nur zwei Jahre später erhielt ich dann das Angebot, Chefredakteur von BILD zu werden. Mir war klar, dass das kein leichter Gang wird, aber das war ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Bis heute bereue ich diese Entscheidung nicht. Das waren 16 ganz tolle Jahre!
Was hat Sie 16 Jahre lang dort gehalten? Was macht BILD für Sie aus?
Ich hatte im Laufe meiner Karriere bei BILD zweimal die Chance, mich völlig neu zu erfinden: Das eine war der Umzug unserer gesamten Redaktion von Hamburg nach Berlin. Dieser Schritt wirkte auf uns alle wie ein Jungbrunnen. Jeder Mitarbeiter wurde aus seinem gewohnten Lebensumfeld herausgerissen. Diese Veränderung zwang jeden Einzelnen, sich neu zu erfinden, was insgesamt wie eine Verjüngungskur und sehr erfrischend für die ganze Redaktion wirkte. Hamburg war natürlich ein fantastischer Ort mit hoher Lebensqualität, doch alles war dort sehr etabliert und konservativ. Wenn meine Frau und ich zum Beispiel zum Abendessen eingeladen waren, konnte ich nicht nur vorhersagen, wer alles anwesend sein würde, sondern auch, wie die Sitzordnung aussehen würde. Im Gegensatz dazu steht die BILD Zeitung, die eine ganz andere Art von Publikation ist. BILD muss immer dort sein, wo die Musik spielt, im übertragenen Sinne dort, wo das Leben tobt, und das war in Berlin der Fall. Dies bot mir die perfekte Gelegenheit, mich selbst und meine Arbeitsweise neu zu erfinden. Ein weiterer Glücksmoment war im Jahr 2012, als ich für ein Jahr ins Silicon Valley ging. Auch dort hatte ich die Gelegenheit, neue Perspektiven zu gewinnen und Dinge anders anzugehen. Ich bekam eine Vorstellung davon, was auf unsere Branche alles zukommt und wie wir uns verändern müssen, um dieser Disruption angemessen zu begegnen.
Dazu kommt natürlich, dass du nicht so lange Chefredakteur von BILD bist, wenn du nicht ein großartiges Team hast. Du brauchst ein Team, auf das du dich blind verlassen kannst, und ich habe das Glück gehabt, so ein Team zu haben. Wenn das nicht gewesen wäre, dann hätte ich das nicht so lange ausgehalten.
Und was fasziniert Sie an der Marke BILD?
Die Marke BILD lässt alles zu. Ich habe ja gesagt, dass ich jemand bin, der gerne Geschichten erzählt. Bei BILD sind wir im Grundsatz davon ausgegangen, dass Geschichte nicht einfach nur technisch passiert, sondern dass Geschichte von Menschen gemacht wird. Während zum Beispiel eine Zeitung wie die FAZ, die ich sehr schätze, annimmt, dass die Welt rational funktioniert, behaupten wir, die Welt funktioniert zuallererst emotional. Die FAZ ordnet die Welt immer nach rationalen Kriterien, was dazu führen kann, dass dann auch mal die Kommunalwahlen in der Slovakei Hauptaufmacher der Zeitung sind. Wir bei BILD sehen das anders: Die vernünftigsten Projekte scheitern nicht an irgendwelchen rationalen Gründen, sondern daran, dass die Chemie zwischen zwei Menschen nicht stimmt. BILD ist so etwas wie der Seismograf der deutschen Befindlichkeit, denn wir haben sozusagen jeden Tag die Temperatur im Lande gemessen. Bei BILD wird nicht nur über das geschrieben, was ist, sondern wie das, was ist, von den Menschen empfunden wird.
Das beste Beispiel dafür ist eine unserer Schlagzeilen „Wir sind Papst“. Die ist ja gleich zweifach falsch: Natürlich grammatikalisch – aber auch inhaltlich, weil ja nicht alle Deutschen zum Papst gewählt worden sind. Aber diese Schlagzeile gibt einem Gefühl Ausdruck. Das hat mir an BILD so wahnsinnig viel Spaß gemacht. BILD ist aufregend; wir wollen provozieren und polarisieren. Einmal gab es in Deutschland eine Debatte, ob man Bilder aus Kriegen oder anderen Situationen überhaupt zeigen darf. Daraufhin haben wir eine ganze Ausgabe komplett ohne Fotos gedruckt und die Fotos immer schwarz gefärbt, um zu zeigen wie unsere Informationsbild ohne Bilder aussehen würde. Bei BILD konnte ich zudem jeden Tag etwas neues und anderes machen: Seitenlange Interviews mit Angela Merkel oder Seiten, die komplett von Künstlern gestaltet werden lässt nur eine Zeitung wie BILD zu, wo du jede Regel brechen kannst. Mein Anspruch war immer: BILD muss süchtig machen!
Wo sehen Sie die Zukunft der klassischen Print Zeitung?
Wer käme auf die Idee, den Erfolg von Taylor Swift heute noch an der Zahl der Schallplatten festzumachen, die sie verkauft? Entscheidend ist nicht das Trägermedium, entscheidend ist die Information an sich. Meine Botschaft an die Kollegen war immer: Wir bei BILD sind keine Papierhändler, sondern Geschichtenerzähler. Und die digitale Welt macht das Geschichtenerzählen noch viel spannender als es in der analogen Welt je möglich war. Papier ist ein sehr begrenztes Medium. Es hat einen festen Erscheinungsrhythmus, der Platz ist begrenzt, die Ausdrucksmöglichkeiten sind begrenzt, es gibt keine Bewegtbilder und keinen Sound. In der digitalen Welt kann ich in Echtzeit Geschichten erzählen mit zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten, und insofern kommt es im Journalismus nicht auf das Trägermedium an, sondern darauf, wie ich die neuen Möglichkeiten nutze, Geschichten zu erzählen. Natürlich wird es immer eine Nische für Print geben. Ich sage immer, es gibt ja auch noch Pferde, aber keiner käme auf die Idee, mit dem Pferd ins Büro zu reiten.
Mit unserer digitalen Strategie hatten wir ganz andere Möglichkeiten, unser Publikum zu erreichen. In ihren besten Zeiten wurde die gedruckte BILD Zeitung von ungefähr 12 Millionen Menschen gelesen. Heute erreicht BILD mitsamt den Online Artikeln und Social Media insgesamtüber 30 Millionen Menschen und auch schon in jüngeren Lebensphasen, als das früher der Fall war. Die Marke BILD kann sowohl bei TikTok als auch Instagram ein deutlich jüngeres Publikum ansprechen, als das mit der gedruckten Zeitung je möglich gewesen ist. Ein weiterer Vorteil von digitalen Medien ist natürlich die Nachhaltigkeit. Eine gedruckte Zeitung hat einen enormen Materialeinsatz und wird meistens nach dem Lesen weggeworfen. Wir dürfen die digitale Welt und die neuen Technologien nicht als Bedrohung für unser Geschäftsmodell empfinden, sondern sollten sie mit beiden Armen fest umgreifen und jede Möglichkeit nutzen.
In Ihrem Buch „Ich war BILD“ berichten Sie von einigen sehr interessanten Treffen und Interviews mit spannenden Persönlichkeiten. Was war für Sie die spannendste Begegnung während Ihrer Zeit bei BILD?
Das ist ganz schwierig zu beantworten. Wenn du so lange an der Spitze von BILD warst, wie ich das gewesen bin, dann reicht das für drei Leben. Dann gibt es kaum etwas, das Du nicht erlebt hast. Das alles dann auf die eine Begegnung zu reduzieren, ist wirklich eine Herausforderung. Mein Interview mit dem frisch gewählten Donald Trump 2017 war sicherlich eine der ungewöhnlichsten Begegnungen, die ich je mit einem Spitzenpolitiker hatte. Bis heute ist dieses Interview mit ihm das einzige Interview, das je ein deutschsprachiger Journalist mit ihm geführt hat. Das liegt nun auch schon ein paar Jahre zurück, und auf einmal diskutieren wir ganz aktuell seinen Wiedereinzug ins Weiße Haus. Ich habe übrigens auch nicht damit gerechnet, dass uns Russlands Präsident Putin oder der türkische Präsident Erdogan so lange und intensiv beschäftigen würden – die ich ja ebenfalls beide mehrfach zu Interviews getroffen habe. Wirklich berührend war eine Privat-Audienz bei Papst Johannes Paul in den letzten Monaten seines Lebens. Zu erleben, wie er sein Sterben und seinen nahenden Tod öffentlich gemacht hat, war unglaublich bewegend. Von diesem Mann ging einfach wahnsinnig viel aus. Ganz anders, aber mindestens ebenso berührend war mein dreitägiger Besuch bei Dalai Lama in seinem Exil im indischen Himalaya-Gebirge. Einfach unglaublich…
Mit einer Zeitung wie BILD kommt eine erhebliche Verantwortung im Hinblick auf die politische Meinungsbildung einher. Wie ordnen Sie diese Verantwortung von großen Medienkonzernen in diesem Kontext ein?
Verantwortung ist hier das genau das richtige Wort. Ich würde nicht von Macht oder etwas dergleichen sprechen. Macht leiht einem ja nur die große Zahl der Leser. Aber es war vor allem Verantwortung, der ich mich stellen musste. Die Bildzeitung ist nun mal die lauteste Trompete auf der Bühne, und es ist einfach ein Riesenunterschied, ob der gleiche Sachverhalt in der FAZ auf Seite eins beschrieben wird – oder bei uns auf Seite eins. Das hat schon mit der Gestaltung unserer Zeitung zu tun. Eine BILD-Schlagzeile brüllt, schlägt im Zweifelsfall Alarm. Es gibt dafür auch ein etwas kurioses Beispiel: Wir sind einmal für eine Geschichte mit einem angesehenen Journalistenpreis ausgezeichnet worden, die wir nicht veröffentlicht haben. Das war während der großen Bankenkrise 2008. Zu der Zeit gab es nämlich intern zahlreiche Banken-Berichte, dass die Deutschen ganz viel Bargeld aus den Automaten holen, weil sie Sorge hatten, das Bargeld könnte knapp werden. Es gab bereits die ersten leeren Geld-Automaten. Es wäre daher journalistisch gerechtfertigt gewesen, ganz groß auf Seite eins die Frage zu stellen: „Wird das Bargeld knapp?“. Wenn BILD das gemacht hätte, dann wäre das System wahrscheinlich zusammengebrochen. Doch wir haben auf diese Schlagzeile verzichtet, um keinen Banken-run auszulösen. Das war unsere Verantwortung. Genau das bedeutet es, bei BILD zu sein: Man muss immer ein Stück weit mitbedenken, was die Schlagzeilen auslösen könnten.
Unsere neue Ausgabe erscheint unter dem Motto “What’s next?”. Was war Ihr persönliches „Whats next?“ nachdem Sie als Chefredakteur bei BILD aufgehört haben?
Mich beschäftigte generell, was mit der Medienbranche passieren wird. Der Aufstieg der Online Medien und Social Media bietet ein enormes Business Model. Früher haben wir, die Journalisten und Chefredakteure, darüber entschieden, wer auf die große Bühne darf und ein Massenpublikum erreicht – sei es ein Politiker, der seine Wähler ansprechen will oder ein Unternehmen mit seinen Produkten oder Dienstleistungen. Mit Social Media war das auf einmal vorbei, denn plötzlich konnte sich jeder seine eigene Bühne schaffen. Auch der Medienkonsum hat sich stark verändert: Die Generationen Z und Y haben gelernt, ihre Informationen über Social Media zu konsumieren. Was sie in ihrem Feed finden ist für sie interessant und was sie dort nicht finden, vermissen sie auch nicht und suchen es nicht. Das heißt, wenn du heute als Unternehmen oder als Politiker nicht auf Social Media bist, dann kommst du in der Lebenswirklichkeit der jüngeren Generation überhaupt nicht mehr vor. Social Media ist heute keine Option, sondern ein Muss, wenn man erfolgreich kommunizieren will. Wichtig dabei ist: Auf Social Media geht es ja nicht um fiktionales Marketing aus Zeit und Raum, sondern darum, konkrete faktische Geschichten zu erzählen.
Und wer kann das am besten? Journalisten. Deswegen haben wir die Firma StoryMachine gegründet. Uns geht es darum, diese konkreten Geschichten von Unternehmen und Unternehmenslenkern dort zu erzählen, wo sie ihre Publikum erreichen. Wir sind sozusagen digitale Ghostwriter. Ich vergleiche unsere Arbeit immer gerne mit der Arbeit des Musikproduzenten von Taylor Swift. Taylor Swift steht für phantastische 85 Prozent, was die Qualität ihrer Musik angeht. Aber die letzten 15 Prozent, die sie zum überragenden Star machen, die liefert der Produzent an seinem Pult. Genau in dieser Rolle sehen wir uns. Wir stehen heute hinter großen Accounts von Unternehmen oder CEOs. Wir kreieren die Inhalte, die sie brauchen, um den Kommunikationszweck zu erreichen, den sie erreichen wollen.
Würden Sie rückblickend etwas an Ihrer Karriere anders gestalten oder ändern?
Es gäbe mit Sicherheit viele Schlagzeilen, die ich heute nicht mehr so machen würde. Doch warum heißen wir Journalisten? Weil wir für den Tag – à jour – arbeiten. Wir mussten uns in der analogen Zeit bis zum Redaktionsschluss am Abend eine Meinung zu den entsprechenden Themen des Tages gebildet haben. Dann passiert es jedoch immer wieder, dass sich mancher Sachverhalt teilweise Stunden später anders darstellt, als man zuerst angenommen hat. Bei einer Tageszeitung verantwortet man viele Schlagzeilen, bei denen man später erkennen muss, dass man mit seiner Einschätzung daneben gelegen hat. Zum Beispiel haben wir damals den Irakkrieg von US-Präsident George W. Bush für gerechtfertigt und richtig gehalten und haben uns dazu heftigste Auseinandersetzungen mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder geliefert, der die Teilnahme an diesem Krieg verweigert hat und damit aus unserer Sicht die Solidarität mit den Amerikanern aufgekündigt hatte. Zurückblickend sind wir es bei BILD gewesen, die damals auf der falschen Seite der Geschichte standen.
In der einen oder anderen Situation war ich mit Sicherheit ungerecht zu meinen Kollegen; sehr ungerecht und sehr fordernd. Aber grundsätzlich muss ich sagen, war das eine großartige Zeit. Ich war ja nicht nur 16 Jahre an der Spitze von BILD, sondern ich war 31 Jahre lang bei Axel Springer. Ich wollte immer Geschichten erzählen und ich durfte dort 31 Jahre lang Geschichten erzählen.
(Bild: Peter Rigaud)